Der Läset ist erst der Anfang

An den stei­len Ufern des Bie­ler­sees ist der Läset in vol­lem Gan­ge. Kei­ne ande­re Zeit des Jah­res bedeu­tet für die Win­zer eine grös­se­re Anstren­gung. Erst die fach­män­ni­sche Ver­ar­bei­tung ent­schei­det schliess­lich dar­über, ob es einen guten Wein­jahr­gang geben wird.

Es sind arbeits­in­ten­si­ve Tage für Beat Burk­hardt. Im Vor­bau eines mit­tel­al­ter­li­chen Gebäu­des mit­ten in Ligerz tür­men sich die Trau­ben kis­ten­wei­se. Seit 1415 wird im Bie­ler­haus der Wein­bau gepflegt, ein Fami­li­en­be­trieb in der ach­ten Gene­ra­ti­on. Mag sich doch eini­ges über die Jahr­hun­der­te ver­än­dert haben, für den Win­zer bleibt die Zeit der Ern­te, des Läsets, die anstren­gends­te des Jah­res. Jetzt zeigt sich, ob die Trau­ben wäh­rend all der Mona­te zur opti­ma­len Rei­fe gelangt sind, und jetzt liegt es am Win­zer, aus den klei­nen Bee­ren einen deli­ka­ten Trop­fen zu keltern.

Sta­pel um Sta­pel, Kis­te um Kis­te lan­den auf der Waa­ge. Das gehört zur offi­zi­el­len Lese­kon­trol­le. Gewicht, Her­kunft, Gemein­de, Par­zel­len­na­me, Zucker­ge­halt – das alles muss Beat Burk­hardt im Ern­te­at­test fest­hal­ten, für die Ern­te­sta­tis­tik des Kan­tons. Eigent­lich gäbe es durch den Kan­ton eine Men­gen­be­schrän­kung «aber das ist gar nicht nötig, wir gehen auf Qua­li­tät, nicht auf blos­se Men­ge.» Auch wenn Burk­hardt es woll­te, er könn­te gar nicht in rie­si­ger Fül­le pro­du­zie­ren. Mit 2,5 Hektaren Anbau­flä­che gehört sein Wein­gut zu den klei­ne­ren am Bie­ler­see. Auf gut gele­ge­nen Par­zel­len gedei­hen auf bes­tem Bie­ler­see-Ter­ro­ir die Sor­ten Chas­se­las, Syl­va­ner, Char­don­nay, Pinot Gris, Pinot Noir und Dornfelder.

Die Kis­ten auf der Waa­ge sind prall gefüllt mit Char­don­nay-Trau­ben. Bevor sie aber hier gelan­det sind, hat der Win­zer sie schon etli­che Male begut­ach­tet, als die Bee­ren noch am Reb­stock hin­gen. Sind fau­le Bee­ren dabei? Sind die Trau­ben wie gewünscht von grün­lich-gel­ber Fär­bung? Sind die Ker­ne nun nicht mehr gelb­grün, son­dern haben sie eine gelb­bräun­li­che Far­be ange­nom­men? In die­sem Jahr ern­tet Burk­hardt etwa eine Ton­ne Char­don­nay-Trau­ben. Drei­vier­tel sind an die­sem Diens­tag bereits gelesen.

Abbee­ren und Quetschen

Am Mitt­woch der letz­ten Woche hat man mit dem Läset begon­nen. Anders als in ver­gan­ge­nen Jah­ren spielt es eine weni­ger gros­se Rol­le, wann man wel­che Par­zel­le lesen muss, dank der gros­sen Hit­ze des Som­mers. «Da kann man guten Gewis­sens alles gleich­zei­tig neh­men», sagt Burk­hardt. Ende Woche oder Anfang nächs­ter Woche soll die Arbeit been­det sein.

Burk­hardt notiert sich Kilo-Zah­len, als plötz­lich sein Mobil­te­le­fon klin­gelt. «Hal­lo… ja…sechs, sie­ben Kis­ten, aber gut fül­len, die Din­ger.» Der Anru­fer ist «Hör­bi», der Reb­meis­ter. Er koor­di­niert die Arbei­ten, die zeit­gleich in den Reben statt­fin­den. Gera­de wer­de eine Par­zel­le Pinot Noir gele­sen, sagt er, das gebe dann Oeil de Per­drix. Die hel­le Far­be die­ses Rosés wird durch sofor­ti­ges Pres­sen der Mai­sche erreicht. Dadurch gelan­gen nur weni­ge rote Farb­stof­fe der Bee­ren­haut in den Saft.

Burk­hardt wirft eine Maschi­ne an, ein ecki­ges Unge­tüm aus Edel­stahl, aus dem ein trich­ter­för­mi­ger Schlund ragt. Ein tie­fes Dröh­nen erfüllt den Raum, Kis­te um Kis­te der Char­don­nay-Trau­ben ver­schwin­det dar­in. Die­se Maschi­ne besorgt zwei Din­ge: Abbee­ren und Quet­schen. Bei weis­sen Trau­ben blei­ben die Stie­le dran, bei den roten nicht. Als Abbee­ren, Rebeln oder Ent­rap­pen bezeich­net man das Ablö­sen und Ent­fer­nen der Bee­ren vom Rap­pen, also dem Trau­ben­ge­rüst der Wein­trau­ben. Dies soll ver­hin­dern, dass die im Trau­ben­stiel und Rap­pen ent­hal­te­nen Gerb­stof­fe in den Wein gelan­gen. Frü­her erfolg­te das Abbee­ren mit der Hand; heu­te über­neh­men dies soge­nann­te Abbeer­ma­schi­nen. Mit einer Sta­chel­wal­ze wer­den die Trau­ben durch eine Loch- oder Git­ter­trom­mel beför­dert. Die Bee­ren fal­len durch, und die Käm­me, also die Rap­pen, wer­den am Trom­mel­en­de aus­ge­wor­fen. Die Loch­trom­mel kann hori­zon­tal oder ver­ti­kal ange­bracht sein. Das Quet­schen der Bee­ren erfolgt mit dar­un­ter­lie­gen­den Quetsch­wal­zen. Der Druck der Wal­zen muss so ein­ge­stellt wer­den, dass die Reb­ker­ne nicht gequetscht werden.

Süss­lich-sau­rer Traubensaft

Burk­hardt taucht einen Mess­be­cher aus Plas­tik in die grün­schim­mern­de Mas­se, die ange­quetsch­ten Trau­ben lan­den in einem Sieb, der aus­tre­ten­de Most wird auf­ge­fan­gen. «Gut», sagt Burk­hardt, der Most sei recht kalt, das lie­ge an den tie­fe­ren Tem­pe­ra­tu­ren der Nacht. Gut des­halb, weil sich bei zu viel Wär­me das Risi­ko einer zu frü­hen Gärung erhöht. Der Win­zer giesst eini­ge Trop­fen des Mosts in den Ein­füll­stut­zen eines Geräts, das unge­fähr die Grös­se eines Mobil­te­le­fons hat. Es han­delt sich um einen Refrak­to­me­ter, der den Zucker­ge­halt der Flüs­sig­keit bestimmt. Das geschieht unge­fähr nach fol­gen­dem Prin­zip: Flüs­sig­kei­ten len­ken Licht­strah­len ab. Das kann man etwa in der Bade­wan­ne beob­ach­ten, wenn man einen Gegen­stand ins Was­ser hält. Die Ablen­kung ist um so grös­ser, je kon­zen­trier­ter die Flüs­sig­keit ist. Im Refrak­to­me­ter wird nun ein Licht­strahl durch die zu mes­sen­de Flüs­sig­keit geschickt. An einer geeich­ten Ska­la kann man die Ablen­kung und somit die Kon­zen­tra­ti­on able­sen. 96 Grad Oechs­le liest Burk­hardt ab. «Das ist viel. Sehr gut für einen Char­don­nay.» Zu süss sei aber auch nicht gut, lie­ber frisch-fruchtig.

Nach­dem er zwei Degus­ta­ti­ons­glä­ser her­vor­ge­holt hat, giesst Burk­hardt zwei unter­schied­li­che Mos­te ein, von ver­schie­de­nen Par­zel­len. Bei­de Flüs­sig­kei­ten sind trüb und irgend­wo zwi­schen schim­mern­dem Gelb­grün und dump­fem Weiss­grün. Nur eine scheint etwas hel­ler zu sein. Im Mund sind bei­de zuerst süss, dann säu­er­lich, dann bei­des zusam­men. Pri­ckelnd süs­se Säu­re in jedem Win­kel des Mund­raums. «Als Trau­ben­saft könn­te man den nicht verkaufen.»

Ein dicker roter Schlauch ver­bin­det die Abbeer­ma­schi­ne mit der Pres­se, ein Sog treibt die gequetsch­te Mas­se hin­durch, wie durch eine gigan­ti­sche Spei­se­röh­re, sche­men­haft zeich­nen sich die Sil­hou­et­ten durch die dun­kel­ro­te Plas­tik­haut ab. Was in der Pres­se lan­det, nennt man jetzt Mai­sche – ein Gemisch aus Most, Bee­ren­scha­len und Traubenkernen.

In der Wein­pres­se, auch Kel­ter genannt, wird die Mai­sche dann aus­ge­presst. So wer­den die Trau­ben­rück­stän­de vom süs­sen Trau­ben­saft, dem Most, getrennt. Aus unge­fähr 115 Kilo­gramm Trau­ben gewinnt man 100 Liter Mai­sche, dar­aus kann man wie­der­um etwa 65 bis 85 Liter Most gewin­nen. Heu­te wer­den in der Regel pneu­ma­ti­sche Pres­sen ver­wen­det, bei denen ein Luft­sack in der Mit­te des Press­zy­lin­ders auf­ge­bla­sen wird. Eine scho­nen­de Pres­sung ist wich­tig, damit kei­ne Bit­ter­stof­fe in den Wein gelan­gen. Die­se wür­den durch ein Zer­drü­cken der Ker­ne frei­ge­setzt wer­den. Was nach dem Pres­sen zurück­bleibt, die fes­ten Bestand­tei­le der Bee­ren, also die Scha­len, Samen und Stie­le, bezeich­net man als Tre­ber oder Trester.

Burk­hardt öff­net die Pres­se. Ein süss­li­cher, fruch­ti­ger Duft steigt auf. Bei die­ser Sor­te lässt man die Mai­sche nur kurz ste­hen. Durch die Mai­sche­stand­zeit wer­den bestimm­te Sub­stan­zen frei­ge­setzt, Aro­ma­stof­fe aus der Bee­ren­haut gelöst, die die Sen­so­rik des spä­te­ren Wei­nes beein­flus­sen. Die Stand­zeit der weis­sen Trau­ben­mai­sche ist rela­tiv kurz und dau­ert nur weni­ge Stunden.

Nach dem Abpres­sen lässt man den Most dann 24 bis 48 Stun­den in einem Tank ste­hen, damit die Trüb­stof­fe sich abset­zen kön­nen. Etwa 15 Pro­zent davon blei­ben in der Flüssigkeit.

Die Bit­ter­keit des Dornfelders

Der Moment, in dem Beat Burk­hard die Tür zum Tank­kel­ler öff­net, wirkt wie ein Schlag: Ein plötz­li­cher süss­lich schwe­rer Duft von Hefe, dick und mäch­tig, als ob man die Aro­men direkt aus der Luft beis­sen könn­te. So riecht Gärung. Ein offe­ner Bot­tich aus Edel­stahl, eine rote Mas­se, ein süs­ses Bou­quet wabert über den Bee­ren. Dorn­fel­der in der Mai­sche. Burk­hardt schöpft etwas Most ab, der als vio­lett­ro­te Flüs­sig­keit im Glas lan­det. Fast fau­lig-süss schmeckt es auf der Zun­ge, aber auch unver­kenn­bar alko­ho­lisch. Die Umwand­lung des Zuckers ist bereits fort­ge­schrit­ten, die Gärung steht kurz vor dem Ende.

Nach dem Gär­vor­gang errei­chen die meis­ten Wei­ne zwi­schen 11 und 13 Volu­men­pro­zent Alko­hol. Aus­ser Alko­hol ent­ste­hen noch unge­fähr 400 ande­re Ver­bin­dun­gen, die Ein­fluss auf den Geruch und den Geschmack des Wei­nes haben. Auch die Gerb­stof­fe sind schon deut­lich in Form einer leicht bit­te­ren Note zu spü­ren. Völ­lig anders der Pinot Gris vom vor­letz­ten Mitt­woch: Süss und sprit­zig, wie Rimus mit einem Hauch Kohlensäure.

Guter Jahr­gang erwartet

Nach einer kur­zen Fahrt durch Ligerz und Scha­fis in den Reben: Hier wacht Her­bert «Hör­bi» Hofer als «Tät­sch­meis­ter» über die Läse­thel­fer. Je wei­ter man in den Hang blickt, um so stei­ler wird er. Bes­te Lage. Die Pinot Noir-Trau­ben, die hier gera­de gele­sen wer­den, sind für den Bar­ri­que-Aus­bau bestimmt. 24 hel­fen­de Hän­de, 60 gel­be Plas­tik­kis­ten und Aber­tau­sen­de von Bee­ren: Seit Mit­te letz­ter Woche wird in den Reben gear­bei­tet. Bis­her muss­te man nur ein­mal wegen star­ken Regens pau­sie­ren. «Wenn ein paar ver­ein­zel­te Trop­fen fal­len, ist das nicht wei­ter schlimm», sagt Her­bert Hofer, bei star­kem Regen habe man aber das Pro­blem, dass sich das Was­ser in den Kis­ten sam­melt. Das bekom­me den Trau­ben gar nicht. Für ihn ist es bereits der zwölf­te Läset, zum zwei­ten Mal in die­ser Funk­ti­on bei Beat Burkhardt.

So schnell wie in die­sem Jahr kom­me man sel­ten vor­an, das Trau­ben­gut sei in wirk­lich her­vor­ra­gen­der Ver­fas­sung: «Weder ver­fault noch ange­fres­sen, kaum Ver­lus­te – sagen­haft!» Hofer sucht soge­nann­te Essig­bee­ren, leicht ange­schrum­pel­te Bee­ren, die durch Insek­ten ange­sto­chen wor­den sind, aber er fin­det kei­ne. «In ande­ren Jah­ren muss man des­we­gen sehr viel aus­sor­tie­ren, das kos­tet natür­lich Zeit.» Nicht so 2015. Pinot Gris und Dorn­fel­der sind bereits voll­stän­dig gele­sen und im Kel­ler, der Pinot Noir ist auch bald geerntet.

Gemäch­lich rat­tert ein Rau­pen­fahr­zeug durch die Wein­stö­cke, bela­den mit gut gefüll­ten Kis­ten. Gut voll, aber nicht zu voll, sonst tritt Saft aus den Bee­ren und alles klebt. So ein Arbeits­tag beginnt in der Regel um acht Uhr mor­gens und endet um fünf Uhr abends. Aller­dings dau­ert es ger­ne ein­mal etwas län­ger, etwa, wenn eine Par­zel­le noch fer­tig geern­tet wer­den muss oder der Win­zer unbe­dingt noch Most benö­tigt, damit die Pres­se voll wird.

Ob es ein guter Jahr­gang wird? Vom Gesund­heits­zu­stand der Trau­ben her, bestimmt, sagt Hofer. «Uns kann nur noch das Wet­ter stop­pen. Alles ande­re ist her­vor­ra­gend», sagt er augen­zwin­kernd, wäh­rend sich in Rich­tung Neu­en­stadt die Wol­ken türmen.

«Zucker, Rei­fe, Säu­re – alles stimmt.» Beat Burk­hardt ist sich ziem­lich sicher, dass 2015 ein sehr guter Jahr­gang wird. Nicht zuletzt wegen der Hit­ze des Som­mers und der küh­len Näch­te in den letz­ten Wochen. Mehr Oechs­le und weni­ger Säu­re, das ver­spre­che voll­mun­di­ge und gehalt­vol­le Weine.

(Bie­ler Tag­blatt, 24.09.2015)