Während zwei Wochen kümmert sich eine Gruppe von Freiwilligen um die Kinder im Durchgangszentrum Lyss-Kappelen. Mit diesem Einsatz schaffen sie eine willkommene Abwechslung zum tristen Alltag der Flüchtlingskinder.
«Achtung, ich komme», ruft die neunjährige Faith. Ihr dunkles zu Rastazöpfen geflochtenes Haar wirbelt umher, als das Mädchen aus Togo mit Rollschuhen die Böschung herunterfährt. Karin Weibel wäre zur Stelle, falls das Manöver misslingt; Faith rudert kurz mit den Armen, wankt, doch behält das Gleichgewicht. Sie fällt nicht.
Erst gestern habe das Mädchen die Inline-Skates entdeckt und übe seither fast ohne Unterbruch, sagt Weibel stolz. Sie scheinen jede Minute, die sie zusammen verbringen, zu geniessen – denn ihre gemeinsame Zeit währt nur kurz. Für zwei Wochen leben sie und sieben weitere freiwillige Helfer im Durchgangszentrum Lyss-Kappelen. Im Rahmen eines Projekts des Service civil international (siehe Infobox) kümmern sie sich um die Kinder von Asylsuchenden, verbringen Zeit mit ihnen.
Soziale Ader
Der Service civil international (SCI) setzt sich als Non-Proft-Organisation für interkulturellen Austausch ein. Er vermittelt Freiwillige in Workcamps und Langzeiteinsätze weltweit und unterstützt in der Schweiz durch die Koordination von Freiwilligeneinsätzen ökologische, soziale und kulturelle Projekte. In den Workcamps arbeiten und leben die Freiwilligen während zwei Wochen in einer Gruppe von internationalen und lokalen Freiwilligen. Gemeinsam unterstützen sie mit ihrer Arbeit ein lokales gemeinnütziges Projekt und begegnen anderen Kulturen.
So auch in Lyss. Das achtköpfige Team stammt aus Italien, Spanien, Tschechien, Finnland, Taiwan und der Schweiz. Für Karin Weibel, die den Einsatz koordiniert, ist es das bisher sechste Workcamp. Damit angefangen hat sie direkt nach der Matura. «Ich hatte schon immer eine soziale Ader und wollte mich engagieren», sagt die angehende Primarlehrerin. Das scheint freilich auch auf den Rest der Gruppe zuzutreffen: Ausnahmslos sind es Studenten – zukünftige Lehrer und Sozialarbeiter –, die während ihrer Semesterferien für den SCI im Einsatz sind.
In Lyss sind es zwei Wochen; Montag bis Freitag, 14 bis 19 Uhr. Aber auch darüber hinaus, denn die Freiwilligen verlassen das Durchgangszentrum während dieser Tage nicht. Sie übernachten in den Schulräumen, die während der sechswöchigen Sommerferien nicht gebraucht werden. Tagesferien will man bieten; die Kinder beschäftigen, spielen, etwas Abwechslung in die Monotonie der alltäglichen Abläufe bringen.
Sich begegnen
Um Punkt 14 Uhr versammelt sich die Gruppe. Eigentlich habe man geplant, bereits um 10 Uhr mit den Aktivitäten zu beginnen. «Weil wir aber vergessen hatten, dass gerade Ramadan ist, waren um diese Zeit noch fast alle im Bett», sagt Karin Weibel.
19 Kinder sind es heute. Nicht alle leben gleich lange hier; einige seit drei Monaten, andere seit über einem Jahr. Jeder Spielnachmittag beginnt mit dem selben Ritual, dem Hallo-Spiel. Man begrüsst sich mit Worten und Gesten. Und plötzlich ist er überall, der Klang verschiedener Sprachen, sich in wildem Durcheinander vermischend. Arabisch, Kurdisch, Tschetschenisch, Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch, Tschechisch, doch alles hat dieselbe Bedeutung: «Hallo»
Von Syrien nach Lyss
«Schau her!» Sirin setzt zu einem Spurt rückwärts an. Sirin ist neun Jahre alt, stammt aus Syrien und lebt seit drei Monaten im Durchgangszentrum. In dieser Zeit hat sie bereits erstaunlich gut Deutsch gelernt. Ihre Familie kommt aus Deir ez-Zur, einer Stadt im Osten des Landes. Auf ihrer Flucht hat es sie schliesslich hierher verschlagen (das BT berichtete). Es ist auffällig, wie viele syrische Flüchtlinge sich in Lyss aufhalten. Sie sind geflohen vor den Schrecken des Krieges. Vor den Bomben, den Schüssen, dem Chaos, der Zerstörung, vor dem fast permanenten Donnern der Detonationen und Kampfjets in der Luft.
Das Durchgangszentrum ist ein vorübergehender Aufenthaltsort für die Asylsuchenden und vorläufig Aufgenommenen. In der Regel leben sie hier zwischen sechs und zwölf Monaten. In dieser ersten Phase erhalten sie eine Einführung in die ortsübliche Sprache und werden mit dem Leben in der Schweiz vertraut gemacht. Nach eingehender Prüfung ihrer Bedürftigkeit erhalten sie finanzielle Unterstützung, Unterkunft, Kleidung sowie den Zugang zur medizinischen Grundversorgung. Ausserdem bereiten sich die Asylsuchenden und vorläufig Aufgenommenen auf einen eventuellen Wechsel in eine Wohnung in einer Gemeinde vor oder müssen sich mit der Rückkehr in ihr Heimatland oder mit der Weiterwanderung befassen.
Die Eintönigkeit durchbrechen
Eine Vielzahl an Sprachen, Nationalitäten, Biografien prallen hier aufeinander, begegnen sich, kreuzen sich an dieser Schnittstelle, einem Ort, der dennoch nichts weiter als einen Übergang markiert. Ein Raum, in dem alles nur vorübergehend ist, nichts von Dauer ist, denn niemand bleibt lange. Und dennoch: Die Zeit; sie scheint nicht vergehen zu wollen. Die Menschen sind hier, und das ist alles, was sie tun können. Dieses nagende Gefühl der Langeweile. Zum Nichtstun verdammt, gestrandet im Exil, fern der Heimat. Eine Heimat, die, so fern sie auch ist, präsent bleibt. Viele der Menschen telefonieren, sitzen hinter Laptops, ihre Aufmerksamkeit scheint in den 30 mal 15 Zentimetern des Bildschirms vollständig aufzugehen. Die Verbindung aufrechterhalten. So auch die Eltern von Sirin. Fast täglich stehen sie in Kontakt mit der Familie der Mutter. Meistens sind keine erfreulichen Neuigkeiten zu vernehmen.
Jedwede Abwechslung, welche die Tristesse durchbrechen kann, ist höchst willkommen. Seit Kurzem hängen bunt bemalte Stofffähnchen im Innenhof. Die Freiwlilligen haben sie zusammen mit den Kindern gebastelt. Um den Ort etwas zu verschönern. Und damit etwas bleibt, wenn die Kinder und ihre Familien weitergezogen sind.
(Bieler Tagblatt, 24.07.2014)