Als die Mittagssonne an jenem Samstag am Rand von Aarberg schliesslich durch das Gewölk bricht, erklingt zurückhaltend eine Melodie, wie auf einem winzigen Klavier gespielt. Die Sperlinge pfeifen und die Bäume flimmern von feinstem Gesang.
20 Schritte später ist die Luft gesättigt von den schrillen Schreien von über 1000 Vögeln. Ohrenbetäubend laut, wie ein Orchester, das unablässig seine Instrumente stimmt. Einzelne Stimmen heben sich kurz ab, erklingen für eine Sekunde gesondert und gehen sofort wieder unter im Getöse. Unterschiedlichste Frequenzen, Lautstärken und Geschwindigkeiten vermischen sich zu einer nicht enden wollenden Kakophonie.
Die Szenerie: Drei Korridore, links und rechts gesäumt mit je zwei Reihen von Vogelkäfigen, die Aarberger Mehrzweckhalle, ein Handelsplatz für gefiederte Tiere. Es ist Vogelbörse in Aarberg und wer sie betritt, wird vor Eindrücken fast erschlagen.
Majestätischer Sittich
Der Kontrast könnte grösser nicht sein. Draussen hört man die Vögel das ganze Jahr, hörbar, aber fast nie sichtbar. Sie sind so klein und schnell. Es bleibt nur ihr Zwitschern, ein Flüstern, das wie ein Gespräch klingt. Es ist anders als alle anderen Naturgeräusche oder der Hintergrundlärm der Stadt. Ein Gesang, der sich über die Welt legt. Der Versuch, die Vögel zu entdecken, bleibt oft sinnlos, der suchende Blick verliert sich in den Büschen und in den Baumkronen. Doch sie sind fort, nur ihre Stimmen bleiben und ihr Bild in der Vorstellung.
Drinnen ist der Vogel ein Gefangener. Im Käfig ist er den Blicken aller ausgesetzt, Sichtbarkeit als Zwang. Es ist paradox: Seit den frühen Hochkulturen vor Tausenden von Jahren blickte der Mensch in Ehrfurcht zum Himmel empor und verehrte das Höhere. Vögel gelten als die Verkörperung von Freiheit, Schnelligkeit und Kraft. Ihr Flug symbolisiert die Fähigkeit, sich über jegliche Grenzen hinwegsetzen zu können. Warum also einen Vogel in Gefangenschaft halten und ihm damit eben jene Eigenschaften rauben, für die man ihn verehrt?
Doch vielleicht ist diese Sichtweise zu abstrakt und distanziert. Pragmatischer gefragt: Was fasziniert den Vogelliebhaber an seiner Leidenschaft?
Mit stoischer Gelassenheit sitzt der Vogel im Käfig. Ein kurzer Krummschnabel in Rotorange, ein dunkelgraues Federkleid, welches sich in Richtung der Flügel hin in ein schimmerndes Pastellgrün fortsetzt. Dieser australische Grosssittich trägt den Beinamen «Prince of Wales» und ist der Lieblingsvogel von Hugo Kähler. Kähler ist Präsident des ornithologischen Vereins «La Perruche» aus Biel, welcher die Vogelbörse in Aarberg organisiert. Am «Prince of Wales» faszinieren ihn die Eigenschaften, welche dem Vogel auch zu seinen aristokratischen Beinamen verholfen haben: «Es ist seine anmutige und stolze Haltung, sowie seine ausserordentlich langen Schwanzfedern», sagt Kähler, «ausserdem ist dieser Vogel furchtlos. Nur sein Gesang kann bisweilen nervig laut sein.» Es sei die Freude an der Schönheit dieser Tiere, die einen nicht loslasse: Die Farbenpracht des Gefieders, die Stimme, der Gesang.
Faszinierende Farben
Diese Faszination macht sich auch in Form wirtschaftlicher Transaktionen bemerkbar. Denn bei aller Schwärmerei für die gefiederte Schönheit handelt es sich bei der Vogelbörse immer noch um einen Handelsplatz. Zwischen 300 und 400 Vögel seien allein am Freitag verkauft worden, erwartbare Tendenz für Samstag und Sonntag steigend.
Mit erkennbarer Unruhe tippeln die Japanwachteln in ihrem Käfig umher. Die graubraun gefiederten und rotbraun gestreiften Hühnervögel stehen zuunterst auf der Preistabelle. Mit einem Preis von nur sieben Franken sind sie die billigsten Exemplare, die man in Aarberg erwerben kann. «Vögel mit neuen Farbmutationen, die sind teuer», sagt Hugo Kähler. Was macht einen Vogel wertvoll? Teuer sind Vögel, die schwer zu züchten sind, Vögel, die selten sind, Vögel, die Platz brauchen. Bei weitem mehr Platz als ihn die kleinen Verkaufskäfige bieten, Zimmervolieren zwei Meter hoch, breit und lang.
In Fragen des Optischen scheint nur ein schmaler Grat zwischen Faszination und Besessenheit zu Verlaufen. Eine schier unendlich wirkende Anzahl an Möglichkeiten, das ornithologische Farbspektrum zu erweitern. Wie verlockend muss es sein, die Grenzen des Machbaren, des Züchtbaren auszuloten. So beim Glanzsittich. Sein Gefieder umfasst sämtliche Elemente des natürlichen Farbspektrums. «Dadurch ist fast alles möglich», sagt Kähler. Über 45 verschiedene Mutationen sind bisher bekannt. Oder der Kanarienvogel. In der freien Natur existiert eine Farbvariante, nämlich gelb. Die intensiven Zuchtbemühungen seit dem 18. Jahrhundert haben die Mutationspalette auf über 100 Varianten erweitert.
Ein Lichtspiel
400 Franken kostet ein Hooded-Sittich. Kein Vogel, der in Aarberg gehandelt wird, ist wertvoller. Die intuitiv erste Frage: Warum? Auf den ersten Blick ist er unscheinbar, die graubraune Haube wirkt wenig attraktiv.
Doch dann Bewegung: Licht trifft auf das Gefieder, und es entwickelt sich ein Eigenleben. Die Federn an Hals und Bauch, filigrane Lamellen in Türkis und Lavendel. In mattem Glanz beginnen sie zu beben, pulsieren im Licht wie eine wabernde Emulsion. Wie schwere Farbtropfen, die träge in ein Wasserglas eintauchen. Aufmerksam registriert der Sittich alles, was um ihn herum geschieht, wer sich seinem Käfig nähert, den fixieren bald die ausdruckslos wirkenden schwarzen Augen. So, als ob er den Dialog suchen würde. Und plötzlich ein stossweises Zwitschern, kurz, sehr bestimmt, laut und hoch. Je länger man das Tier betrachtet, umso mehr faszinieren seine Farben, wie sie intensiv vibrieren. Und dann wähnt man sich auf der Spur dessen, was die Leidenschaft des Vogelliebhabers nährt.
Die Gesetze des Marktes
Hugo Kähler muss jetzt ein wenig lauter sprechen. Ansonsten droht seine Stimme in der schrillen Klangwolke ungehört unterzugehen. Die Vögel haben die Lautstärke erhöht. «Besonders leuchtende Farben boomen im Moment», sagt er. Aus diesem Grund würden jetzt fast alle Gouldamadinen, australische Prachtfinken züchten. Aber vermutlich nicht mehr lange. Denn auch eine Vogelbörse funktioniert ein Stück weit nach den Gesetzen des Marktes. Bei den Gouldamadinen gebe es bald ein Überangebot und das Preisniveau fällt. Das Resultat: Die Züchter bringen die Tiere nicht mehr an den Kunden. Es ist die Ökonomie des Schönen, welche das Räderwerk des Vogelmarkts in Bewegung hält, stossweise, mal stärker, mal schwächer, doch niemals herrscht Stillstand.
Bald werden andere Vogelrassen die höchsten Preise erzielen. Vielleicht der Baraband. Der australische Papagei vollführt unablässig dasselbe Kunststück: Kopfüber hängt er an der Decke seines Käfigs, hangelt sich mit Schnabel und Krallen vorwärts und springt in einer eleganten Bewegung an die Frontseite. Und sofort beginnt es von Neuem. Ohne Pause tastet sich das Tier an den Grenzen seines Gefängnisses entlang, als wollte es spüren, wo die Freiheit beginnt.
Auf einen Schlag steigert sich die Unruhe im Inneren der Aarberger Mehrzweckhalle zu einem dramatischen Höhepunkt. Ein Vogel ist entkommen und flattert wie wild durch das Holzgebälk. Der einzige Vogel, den man heute fliegen sieht. Sofort eilen wild fuchtelnde Helfer herbei. Sie wirken fast so orientierungslos wie das Tier. Mit an langen Stangen befestigten Netzen fängt man ihn schliesslich ein. Die Freiheit währt nur kurz. Die Vögel schreien noch lauter.
(Bieler Tagblatt, 02.03.15)