Während des Zweiten Weltkriegs retteten albanische Muslime jüdische Flüchtlinge vor dem sicheren Tod. In Biel findet diese Woche eine Ausstellung dazu statt.
Sie marschieren 36 Stunden lang, Tag und Nacht. Die Brüder Hamid und Xhemal Veseli und ihre Gäste. Sie tragen Verkleidungen, um nicht aufzufallen – werden sie entdeckt, droht ihnen der Tod.
Albanien, 1943. Die Nazis besetzen das bergige Land, in der Welt tobt der Krieg. Die Gäste der Veselis sind zwei jüdische Familien, Flüchtlinge aus Jugoslawien. Sie erreichen das rettende Dorf. Tagsüber verstecken sie die Erwachsenen in einer Höhle in den Bergen. Die Kinder spielen mit anderen Kindern im Dorf. Alle Nachbarn wissen, dass die Veselis Juden verstecken. Neun Monate lang leben sie im Verborgenen, bis zur Befreiung.
Am 23. Mai 2004 werden Hamid und Xhemal Veseli als «Gerechte unter den Völkern» anerkannt. Ein in Israel nach der Staatsgründung 1948 eingeführter Ehrentitel für nichtjüdische Personen, die unter nationalsozialistischer Herrschaft während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben einsetzten, um Juden vor der Ermordung zu retten.
Bisher kaum bekannt
Wer heute von sogenannten Judenrettern spricht, denkt fast automatisch an Oskar Schindler oder an Paul Grüninger – aber nicht an Albaner. Es ist ein kaum bekanntes Kapitel in der Geschichte des Holocaust, dass bis zum Abzug der Deutschen aus Albanien 1944 fast 2000 Juden Zuflucht bei muslimischen Familien fanden und beinahe alle die tödliche Jagd der Nationalsozialisten überlebten. Ihre Rettung verdanken sie der «Besa», denn Besa ist Teil des uralten Ehrenkodex der Albaner. Wer jemandem Hilfe anbietet, ihn bei sich zu Hause aufnimmt, muss sein Schutzversprechen halten.
«Besa – ein Ehrenkodex» lautet der Name einer Wanderausstellung, die bis am Freitag in Biel zu Gast ist. Von der Gedenkstätte Yad Vashem ins Leben gerufen, wird sie in zahlreichen Schweizer Städten zu sehen sein. Das Schweizer Ausstellungsprogramm entstand in enger Zusammenarbeit mit der israelischen, der albanischen und der kosovarischen Botschaft in Bern. An der Organisation ist auch ein Bieler beteiligt: Alain Pichard, Lehrer und GLP-Stadtrat. Für ihn stellt die Ausstellung eine wichtige Frage: «Was tun, wenn Recht zu Unrecht wird, wenn so viele das Falsche tun? Gerade dann muss man über jene Menschen berichten, die das Richtige taten.»
Retter und Gerettete
Die Besa-Ausstellung dokumentiert die Selbstverständlichkeit, mit der Muslime Juden retteten. Nebst zwölf Fototafeln mit Texten zu den jeweiligen Rettungsaktionen, gibt es vier Einführungstafeln über den Holocaust, die Geschichte Albaniens, die «Gerechten unter den Völkern» und den Fotografen Norman H. Gershman. Portraitiert werden die Retter selbst, ihre Familienangehörigen und Nachkommen, die ihre Geschichte erzählen. Die gezeigten Portraits sind das Ergebnis der vierjährigen Arbeit des amerikanischen Fotografen Norman H. Gershman, der die Geschichten von Juden und den muslimisch-albanischen Familien, die sie vor dem Tod retten, festhielt. Eines der Fotos zeigt auch Hamid und Xhemal Veseli.
Muslime, die Juden retten. Für Alain Pichard ist klar: «Der symbolische Wert dieser Handlung ist nicht hoch genug einzuschätzen. Besonders angesichts der gegenwärtigen Konflikte.»
Die dunkle Seite
Besa ist ein wichtiges Element des Kanun, des albanischen Gewohnheitsrechtes. Der Kanun ist eine Sammlung mündlich überlieferter Gesetze, deren Ursprünge mindestens ins Mittelalter, womöglich aber sogar bis in die Bronzezeit zurückreichen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser Kodex erstmals niedergeschrieben. Der ganze Kanun baut auf der Ehre auf, aus der sich zahlreiche Pflichten, positive Aspekte wie die Besa, aber auch negative Aspekte wie die Blutrache ableiten.
Diese dunkle Seite des Kanun ist in der Tat ein Problem. Gemäss Berichten von Amnesty International gilt die albanische Justiz als korrupt, parteiisch und unfähig. Viele Albaner vertrauen deshalb weiter dem Gewohnheitsrecht. Bei Mord verpflichtet es Familien zur Blutrache. In den letzten 20 Jahren sollen über 9000 Menschen im Namen des Kanun getötet worden sein.
Friedenspakt, Allianz, Waffenstillstandsabkommen, gastfreundschaftliches Bündnis, Ehre des Hauses, Ehrenwort, Schwur, Sicherheitsgarantie, Loyalität, Treue – das Wort Besa umfasst all diese Begriffe. Eine direkte Übersetzung ins Deutsche ist kaum möglich. Die Besa schützt von der Blutrache Bedrohte für gewisse Zeiten oder an bestimmten Orte vor Verfolgung und entbindet gleichzeitig den zur Blutrache Verpflichteten, ein Verbrechen zu rächen. Ein Kodex, in dem Blutrache und Schutzversprechen so eng miteinander verknüpft sind – ist das für eine Ausstellung, welche die Menschlichkeit ins Zentrum rückt, nicht problematisch? Alain Pichard sieht darin kein Problem: «Im Rahmenprogramm wird ausführlich diskutiert. Auch über die Schattenseiten.»
(Bieler Tagblatt, 14.09.2014)