Ueli Tüscher betreibt eine Kunstgalerie in Biel. Der Mann, bei dem neben Jahrhunderte alten Holzstichen auch echte Picassos und Dalís den Besitzer wechseln, lebt nicht nur von der Kunst – er lebt in der Kunst.
Paris, 1961, Rue Valette. Ein 19-jähriger Jüngling aus Biel tritt auf offener Strasse an einen 74-Jährigen, etwas zerzaust wirkenden Herrn heran und ergreift das Wort. Er komme ihm bekannt vor, habe ihn auf Abbildungen gesehen. Ob er ein Künstler sei? Der alte Mann bricht in schallendes Gelächter aus und ist ob dieser Dreistigkeit derart entzückt, dass er den Burschen zu sich in sein Atelier einlädt. Der 19-Jährige heisst Ueli Tüscher, der Name des älteren Herrn: Marc Chagall.
47 Jahre später, am 18. November 2008, einen Tag nach Ueli Tüschers 66. Geburtstag, ist Chagall längst tot, und Tüscher schrammt nur um Haaresbreite am Lebensende vorbei. Ein plötzliches Stechen im Rücken und akute Atemnot, dann Schwärze, Stille. Über zehn Stunden wird Tüscher operiert, dessen Aorta kurz zuvor gerissen war. Als er wieder zu Bewusstsein kommt, ist er halbseitig gelähmt und die Ärzte teilen ihm mit, dass er einen Hirnschlag erlitten habe. Zwei Tage zuvor hat er den Vertrag für eine eigene Kunstgalerie in Biel unterschrieben.
Und hier und heute sitzt er nun da, inmitten seiner mit Kunstschätzen überquellenden «Seeland-Galerie» an der Silbergasse und erzählt die Geschichte seines Lebens. Er, dessen ausgeprägter Sinn für das Schöne ihn um die halbe Welt geführt hat, in den Kunstszenen der grossen Metropolen verkehrte, ruht nun in seinem eigenen ästhetischen Kosmos, seiner Galerie und seiner Wohnung. Rollstuhl und Rollator haben die Dimensionen seiner Lebenswelt drastisch verkleinert. «Gerne wäre ich mehr draussen», sagt Tüscher mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme. «Aber so ist das Leben», meint er in plötzlich aufscheinendem Stoizismus.
In die Kunst geboren
Ueli Tüscher will erzählen, nicht lamentieren. 1942 in Biel geboren, wächst er in einem von Kunst durchdrungenen Umfeld auf. Der Vater, ein bedeutender Mann in einflussreicher Position, der mit Leidenschaft Kunst sammelt, bevorzugt Bilder holländischer Maler. Mehr möchte Tüscher nicht verraten.
Als Ueli 15 Jahre alt ist, hängt bereits ein echter Dalí in seinem Zimmer, allerdings «nur» ein Plakat. Gezeichnet hat er schon immer gerne, entschliesst sich zu einer Lehre als Hochbauzeichner. Er beweist zum Kunstverstand auch handwerkliches Geschick und schon bald lässt der Vater ihn seine Holzstiche und Radierungen einrahmen. Holzstiche, Radierungen, Lithografien, sprechen ihn besonders an, er bewundert deren technische Präzision. Nicht geringer ist Tüschers Faszination für das Spiel mit Farben, deren expressionistische Intensität im Werk Marc Chagalls ihn mit jedem Betrachten aufs Neue überwältigt.
100 Dalís für 5000 Franken
Chagall, Dalí, Miro, Picasso, Braque, Klee, Matisse, Lichtenstein und Warhol. Es sind grosse Namen der Kunstgeschichte, die sich in Tüschers «Seeland-Galerie» lückenlos neben ihre eher unbekannten helvetischen Kollegen Aberli, König, Lory, Freudenberger, Birmann und Herrliberger gesellen.
«Ich habe sehr oft Glück gehabt, bin im richtigen Moment auf die richtigen Leute getroffen», antwortet Tüscher auf die Frage, wie er sich einen derartigen Katalog erarbeitet habe. So zum Beispiel im Jahr 1992, als er in Aarberg eine Galerie betreibt, parallel zu einer weiteren in Lyss. Da ist dieses unglaubliche Tauschgeschäft: 100 Dalís für 5000 Franken cash und ein paar afrikanische Figuren. Es handelt sich um Xylografien – Holzschnitte – die Dantes «Divina Commedia» illustrieren, vormaliger Besitzer ist der Bischof von Siena. «Sein Neffe, ein verschwenderischer Lebemann, hatte die Holzschnitte geerbt und brauchte dringend Geld», erzählt Tüscher. Dass der Erbe sich überhaupt nach Arberg verirrt, hat wohl mit Tüschers mittlerweile zur Perfektion gereiften Fähigkeit zu tun, Holzschnitte zu rahmen. Aus ganz Europa suchen ihn Kunstsammler auf, um von seiner selten gewordener Sachkunde zu profitieren.
Nach Aarberg und Lyss folgt 2002 eine Galerie in Jens, die er bis zu jenem schicksalhaften Tag im November 2008 führt.
Makaberes Sujet
Die Lähmung ist wieder verschwunden, hat aber Spuren hinterlassen. Ueli Tüschers Körper ächzt unter jeder Bewegung, so also ob jede Muskelfaser bis zur Belastungsgrenze strapaziert würde. Über seinen Rollator gebeugt, schiebt er sich in bedächtiger Langsamkeit vorwärts. Ein Leib, der sich mit den ihm gesetzten Grenzen nicht abfinden will. Mit leichtem Zittern hebt Tüscher den Arm und deutet mit dem Zeigefinger auf ein Gemälde.
Sein Lieblingsbild, gemalt von einem namenlosen Künstler. Es zeigt eine junge Frau in nachtblauem Schleier, ihr Antlitz im Spiegel betrachtend. Der Spiegel wirft das Bild ihres nackten Totenschädels zurück. Rechts unten eine Hand, die ein Stundenglas umdreht. Warum dieses Bild? Eine leise Vorahnung? Ästhetisches Zugeständnis an eine eigene Todessehnsucht? «Ach was», Tüscher winkt ab, «mir gefallen lediglich die Farben!»
Die Dankbarkeit darüber, nach den erlittenen Rückschlägen noch klar denken zu können, wechselt sich ab mit der Sehnsucht nach dem vergangenen Leben. Seit drei Jahren war er nicht mehr in der Nidaugasse, weiss nicht mehr, wie diese Strasse heute aussieht. Es sei eben zu anstrengend. So fremd ihm das gegenwärtige Erscheinungsbild der Stadt auch sein mag, um so vertrauter ist ihm das Vergangene. Die Stadt, die Ueli Tüscher früher selber erkundet hat, ergründet er heute in seinen Bildern. Es sind Bilder, die in ihrem Detailreichtum derart verschwenderisch wirken, dass sie den Blick für Stunden gefangen nehmen können.
Auf Zeitreise
Nur schon diese Lithografie. Biel um 1885 aus der Vogelperspektive. Es ist die Zeit, als das Rösslitram den Takt des städtischen Lebens beschleunigt. Der Blick beginnt umgehend in den Strassen, Plätzen und Alleen zu wandern, zu erkunden, zu erforschen. In der Betrachtung wird der Beobachter zum Flaneur. Man kann an einem beliebigen Punkt beginnen und sich ziellos treiben lassen. Am Zentralplatz , im Herzen der Stadt, macht das Rösslitram eine Linkskurve, direkt in die Zentralstrasse, die das ab dem Jahr 1857 erstellte Neuquartier erschliesst. Hier residiert das Bürgertum, die politische und unternehmerische Elite, die gerade erst zugezogenen Uhrmacherfamilien, die bald das ökonomische Räderwerk dieser sich im Aufbruch befindenden Stadt am Laufen halten werden. Die rechte Strassenseite ist noch unbebaut. Hinter den Bäumen liegt das Schädelismatt-Gut, wo Jean Sessler seine Zigarrenproduktion untergebracht hat. Die Tramgeleise führen am Brunnenplatz und am Burgerschulhaus vorbei zur 1882 eröffneten Hauptpost an der Mühlebrücke. Dann wendet sich das Tram nach rechts. Bald erreicht es die Kanalgasse, die Schüss liegt abschnittweise noch frei und wirkt wie die Hauptschlagader dieses zum Leben erwachten, pulsierenden Organismus, für den man die Stadt Biel aus dieser Perspektive halten kann.
Wer Ueli Tüscher auf seinen Expedition in das vergangene Biel folgt, dem wird klar, dieser Mann lebt fast leibhaftig in seinen Bildern, in Perspektiven, in Erzählungen. «Oh je!» enfährt es ihm plötzlich und lässt die Gedankenreise abrupt enden, «Das Bild hängt schief». Dem Auge des Ästheten entgeht eben nichts.
(Bieler Tagblatt 19.04.2015)