Eine überragende chinesische Pianistin, zwei zerstrittene Kritiker und ein Disput über das Wahre und Schöne in der Musik. Davon handelt Etienne Bariliers Roman «China am Klavier».
Marcel Reich-Ranicki schrieb einst: «Gerade in den radikalen Urteilen eines Kritikers […] da, wo er die enthusiastische Zustimmung oder die entschiedene Ablehnung für erforderlich hält, sind in der Regel seine zentralen Bekenntnisse zu finden.» Nach den Bekenntnissen eines Kritikers zu fragen, das heisst zu fragen, welche Massstäbe und Auffassungen von Kunst, Stil und Geschmack bei der Beurteilung eines Kunstwerks zum Tragen kommen. In Etienne Bariliers 2011 erschienenem Roman «China am Klavier» treffen zwei grundverschiedene Auffassungen aufeinander. Der Bieler Verlag «die Brotsuppe» bringt nun die deutsche Erstübersetzung heraus.
Kampf der Interpretationen
Zwei Musikkritiker liefern sich einen erbitterten Kampf um die Richtigkeit ihrer Ansichten und Interpretationen. Der Stein des Anstosses: Bei einem Musikfestival in Südfrankreich erstaunt eine junge chinesische Pianistin das Publikum; virtuos spielt sie Scarlatti, Chopin und Strawinsky. Das Konzert von Mei Jin (eine Anspielung auf die chinesische Starpianistin Yuja Wang) findet mit den fast unspielbaren Paganini-Variationen von Johannes Brahms seinen Höhepunkt. Ein Finale, an dem sich die (kritischen) Geister scheiden.
Ein angesehener und erfahrener Musikkritiker, der sich ausschliesslich unter dem Pseudonym Frédéric Ballade äussert, kürt Mei Jin in seiner Euphorie zur grössten Pianistin der Gegenwart. Weniger begeisterst zeigt sich hingegen Léo Poldowsky (auch ein Pseudonym), Kritikerkollege und ehemaliger Schüler Ballades. Sein Urteil fällt vernichtend aus: «China ist unfähig, die europäische Musik zu spüren, Mei Jin ist folglich nur eine Spielmaschine.» Sie stelle sich ausschliesslich in den Dienst kommerzieller Ziele, ihr seelenloses Spiel sei nichts als eine Verbindung von Imitation und Kunstgriffen.
«China am Klavier» ist ein moderner Briefroman. Er besteht ausschliesslich aus Blog-Einträgen und E‑Mails, in welchen sich die beiden Kontrahenten eine ästhetische Grundsatzdebatte liefern. Es ist die Geschichte von zwei Männern, die sich einst bewunderten, mittlerweile aber zu Gegnern geworden sind. Und es ist ein Kampf der Gegensätze, der dem Leser präsentiert wird. Asien gegen Europa, Leib (Mei Jins Spiel als blosse Körperbeherrschung) gegen Seele (der Geist der europäischen Musik), Maschine (seelenlos) gegen Mensch (beseelt), aber auch Schüler gegen Mentor. Etienne Barilier spielt nicht nur meisterhaft mit diesen Gegensätzen, er spielt sie gegeneinander aus und lässt sie schliesslich einstürzen. Denn im Verlauf des Wortgefechts tauchen Fragen auf, deren Ursachen weit jenseits des intellektuellen Schlagabtauschs zu liegen scheinen. Woran ist die Freundschaft damals zerbrochen? Schreibt Léo Poldowsky seine vernichtenden Kritiken nur deshalb, weil er als Musikagent seinen Protégées, die «eben kein Puppengesicht haben und deshalb für die grossen Musiklabels uninteressant sind», nicht zum gewünschten Erfolg verhelfen kann? Und hat Frédéric Ballade sich die Zuneigung einer attraktiven russischen Pianistin durch ein wohlwollendes Urteil erschlichen? Ist ihm tatsächlich die «Macht eines einflussreichen Kritikers, Königinnen und Könige zu krönen», zu Kopf gestiegen?
Immer tiefer dringt der Leser vor. Schicht für Schicht werden die Ebenen des Konflikts abgetragen, bis schliesslich der wahre Ursprung freigelegt wird. Eine persönliche Auseinandersetzung, ein Vorfall in der Vergangenheit. Barilier skizziert einen ästhetischen Grundsatzstreit zweier eitler Geister als Protokoll einer psychoanalytischen Sitzung. Unter der Oberfläche all der wortreichen und eloquent geführten Dispute wuchert unablässig das Ungesagte, das Unausgesprochene. Der Konflikt einer zerbrochenen Quasi-Vater-Sohn-Beziehung; der Streit zweier gekränkter Egos, die es nicht schaffen, ihre Differenzen von Angesicht zu Angesicht zu beseitigen; sich hinter Pseudonymen und ästhetischen Haltungen verstecken und nur indirekt via Blog oder E‑Mail kommunizieren können.
Kryptische Eleganz
Dass Etienne Barilier kein reiner Romancier ist, merkt man seinem Stil in jeder Zeile an. Die Protagonisten bedienen sich fast ausschliesslich einer essayistischen Sprache, die gekünstelt und affektiert wirkt. Das Repertoire musikwissenschaftlicher Fachbegriffe wird in einigen Passagen bis zur Unverständlichkeit hin ausgeschöpft. Das soll und muss nicht einmal verstanden werden, es illustriert lediglich die hermetische Welt eines Kritikerdaseins. Ungeachtet dieses kryptischen Jargons dominiert jedoch eine Sprache von aussergewöhnlicher Leichtigkeit und Eleganz.
(Bieler Tagblatt, 28.12.2013)