Es sind wieder Philosophietage in Biel. In der diesjährigen Ausgabe dreht sich alles um das Thema Zeit. Ein Streifzug durch die Theorien grosser Denker zeigt, wie aktuell viele Fragen noch sind.
An diesem Wochenende finden zum siebten Mal die Bieler Philosophietage statt. Dass das Nachdenken über die grossen Fragen des Lebens keine abgehobene und unverständliche Angelegenheit sein muss, wollen die Veranstalter auch in der diesjährigen Ausgabe unter Beweis stellen.
Unter dem Motto «Haben Sie Zeit?» werden Philosophen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz das Thema Zeit in all seinen philosophischen Facetten erörtern. Was grosse Geister wie Platon, Augustinus oder Kant über die Zeit geschrieben haben, gehört heute mitnichten zum alten Eisen. Die Fragen, die sie aufgeworfen haben, sind nach wie vor aktuell. Was ist eigentlich Zeit? Entsteht sie nur in unseren Köpfen oder gehört sie zur Natur? Antworten auf diese Fragen gibt es viele, faszinierend sind sie allesamt. Wer der Faszination des Denkens erliegen und an spannenden Diskussionen teilnehmen will, erhält ab Freitag die Gelegenheit dazu.
Haben Sie Zeit? Scheinbar eine simple Frage. Im hektischen Alltag unserer durchgeplanten Arbeitswelt ist sie aber nur selten mit einem einfachen «Ja» zu beantworten. Die Zeit scheint uns förmlich davonzurennen. Was aber rennt uns da eigentlich davon? Wer sich dieses Wochenende an die Bieler Philosophietage begibt, wird viele profunde Antworten erhalten und der Lösung des Rätsels Zeit vielleicht etwas näher kommen. So bietet der Chemiker und Philosoph Siegfried Reusch einen Überblick von der Antike bis zur Gegenwart und zeigt damit die Bandbreite dieses faszinierenden Themas auf. Denn nur bereits ein kleiner Einblick in die Philosophiegeschichte zeigt, wie spannend es ist, über die Zeit nachzudenken.
Nur eine Illusion?
Was ist Zeit? Ist sie etwas, das draussen in der Welt existiert oder gibt es sie nur in uns? Diese Fragen sind so alt wie die Geschichte der Philosophie selbst.
Der erste, der systematisch über die Zeit nachdenkt, ist Platon. Das Seiende, also das, was ist, was existiert, besteht für ihn in den ewigen Ideen. Was in Raum und Zeit erscheint, ist nur ein Abbild der Ideen, wie ein Schatten, den ein Feuer an die Wand einer Höhle wirft.
Am Übergang von Antike zum Mittelalter betritt Augustinus das philosophische Parkett und erklärt die Zeit erstmals zum Produkt des menschlichen Bewusstseins. Seine Argumentation: Wird Zeit als etwas objektiv Gegebenes betrachtet, so zeigt sich, dass sie in verschiedenartige Zeitpunkte zerfällt. Denn das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige noch nicht und die Gegenwart reduziert sich auf den winzigen Punkt des Übergangs von Vergangenheit zu Zukunft. Die Gegenwart ist eine blosse Grenze, sobald wir sie denken, ist sie bereits vorbei. Dennoch haben wir ein Bewusstsein von Dauer, erfahren Zeit und besitzen Zeitmassstäbe. Für Augustinus ist das nur deshalb möglich, weil das menschliche Bewusstsein die Fähigkeit hat, die Spuren, die die flüchtigen Sinneseindrücke hinterlassen, als Bilder im Gedächtnis zu bewahren. Nur das verleiht ihnen Dauer.
Das Ich als Quelle
Das Ich, das Bewusstsein, also das menschliche Subjekt als Quelle der Zeit. Dieser Gedanke erfreut sich im Zeitalter der Aufklärung, besonders in der Philosophie des Deutschen Idealismus höchster Beliebtheit. In seinem monumentalen Werk «Kritik der reinen Vernunft» erklärt Immanuel Kant die Zeit zusammen mit dem Raum zu «Formen unserer Anschauung». Sie sind notwendige Eigenschaften unserer Erfahrung und nicht Eigenschaften der Aussenwelt; sie werden vom Wahrnehmenden beigetragen. Kant will damit sagen: Wenn ich aus dem Fenster auf die Strasse schaue und eine Katze vorbeilaufen sehe, dann scheint mir zwar der Raum, in dem die Katze sich bewegt, einfach eine Eigenschaft der Realität zu sein und nicht etwas, das ich selbst beitrage. Aber um Erkenntnis dessen zu haben, was sich dort abspielt, muss ich meine Wahrnehmung in Begriffen des Raumes organisieren. Ähnlich ist die Ordnung von Ereignissen in der Zeit etwas, was ich den Anschauungen auferlege und nicht eine wesenhafte Eigenschaft dessen, was ich wahrnehme.
Raum und Zeit sind heute überwiegend Gegenstand der Physik. Wie Philosophie und Physik mit dem Thema Zeit umgehen und wo diese Disziplinen gar verschmelzen, wird am Samstag der Philosoph und Physiker Norman Sieroka von der ETH Zürich erklären.
Alles fliesst
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts startet der Franzose Henri Bergson einen Grossangriff auf Kants Zeitbegriff. Für ihn ist das Fliessen der Zeit grundlegend für die gesamte Realität. Unmittelbar erleben wir dieses Fliessen in uns selbst. Bergson bezeichnet dies als «Intuition». Dieses Wissen unterscheidet sich jedoch von den Daten, die uns unser Verstand von der Aussenwelt vermittelt. In der wirklichen Zeit gibt es keine Augenblicke, sie ist ein kontinuierliches Fliessen ohne trennbare Einheiten, ohne Einteilung in messbare Abschnitte. Der Mensch lebt somit in zwei Welten gleichzeitig: In der inneren Welt des unmittelbar von uns Gewussten ist alles im Fliessen begriffen. In der äusseren, vom Verstand präsentierten Welt gibt es getrennte Objekte, die jeweils eine bestimmte räumliche Position in einem bestimmten, messbaren Zeitabschnitt einnehmen. Die äussere Zeit, die Zeit der Uhren und Berechnungen, ist ein intellektuelles Konstrukt, das nichts mit der «wirklichen» Zeit zu tun hat. Bergsons Philosophie gipfelt darin, den innerlich erfahrbaren Zeitfluss mit dem Leben selbst zu identifizieren, der Lebensschwungkraft, dem «élan vital», der den Prozess der Evolution ständig vorantreibt.
Dieser Ansatz hat vor allem die Künstler stark angezogen. Wie verschiedene Kunstformen mit dem Motiv Zeit umgehen, wird auch in Biel ein Thema sein. Die Philosophin Yvonne-Förster Beuthan widmet sich diesem philosophisch noch kaum erforschten Bereich.
(Bieler Tagblatt, 13.11.2013)