Studien sind eine tolle Sache. Man kann aus ihnen Schlüsse ziehen, ohne gross über deren Aussagekraft Rechenschaft ablegen zu müssen. Der Journalist oder die Journalistin kann sich bequem hinter der Quelle verstecken. Erfolgt der Umgang mit dem Ausgangsmaterial aber allzu unkritisch, kann das mitunter eine Berichterstattung zur Folge haben, die schlicht diffamierend ist.
Der Philosoph Konrad Paul Liessmann schreibt in der NZZ vom 10.06.13 in einem Gastkommentar zum Thema Qualitätsjournalismus: „Je universeller Nachrichten und Informationen als solche zugänglich und verbreitet sind, desto wichtiger wird nicht nur die Frage, welche dieser Nachrichten ausgewählt und zu einer Geschichte gemacht werden, sondern auch, in welcher Form sie zu einer Geschichte gemacht werden.“
Qualitativ hochwertiger Journalismus sollte darum bemüht sein, Nachrichten nicht einfach ungeprüft in den öffentlichen Raum zu stellen, sondern sollte die zu publizierende Information in den Kontext ihrer Entstehung einordnen können. Am Umgang mit Agenturmeldungen lassen sich leider allzuoft Beispiele dafür finden, wie man es eben nicht tun sollte. So auch die 20 Minuten-Schlagzeile vom 10.09.2013: „Schock-Studie: Jeder vierte Asiate hat bereits vergewaltigt“.
Thema des Artikels ist eine von der Zeitschrift „Lancet Global Health“ publizierte UN-Studie zum Thema Sexuelle Gewalt. Die Lesenden erfahren, dass dabei insgesamt 10‘000 Männer bis 50 Jahre aus sechs Ländern (Bangladesch, China, Kambodscha, Indonesien, Papua-Neuguinea und Sri Lanka) befragt wurden; mit dem Ergebnis, dass etwa 25 Prozent der Befragten eingeräumt hätten, mindestens einmal eine Frau zum Sex gezwungen zu haben.
Kritische Stimmen wären spätestens hier stutzig geworden. In besagten Ländern leben insgesamt ungefähr 900 Millionen Männer. Die befragten 10‘000 entsprechen somit lediglich 0,00111111 Prozent, was verschwindend wenig ist, um repräsentative Schlüsse aus den Daten zu ziehen. Es wäre bereits äusserst unseriös, anhand dieser Informationen zu behaupten, jeder vierte Mann in diesen Ländern sei ein Vergewaltiger. Der Artikel geht jedoch noch viel weiter und titelt gross, dass jeder vierte Asiate schon einmal eine Frau vergewaltigt habe. Zur Erinnerung: Asien besteht aus 47 Ländern, in denen mehr als 2 Milliarden Männer leben. Eine Zeitung, die es durch ihre Schlagzeile so darstellt, als wäre es eine erwiesene Tatsache, dass in Asien 500 Millionen Vergewaltiger herumlaufen, betreibt schlicht unseriösen Journalismus.
Der Titel der sda-Mitteilung, auf welcher der Artikel beruht, ist übrigens nicht weniger zweifelhaft: „Studie: Jeder vierte Mann in der Asien-Pazifik-Region ist ein Vergewaltiger“. Der Blick hat diese wortwörtlich übernommen. Diese skandalöse Verbreitung von Fehlinformationen betrifft aber längst nicht nur Publikationen aus dem Boulevard-Segment, auch sogenannte Qualitätszeitungen sind davor nicht gefeilt. So ist auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen, dass „jeder vierte Mann in Asien mindestens eine Frau vergewaltigt hat“. Nicht besser die Schlagzeile bei ZEIT online: „Studie: Jeder vierte Mann in Asien hat schon Frau vergewaltigt“.
Ein Lichtblick findet sich beim Tagesanzeiger. Obwohl der Titel mit „Studie in Asien: Jeder vierte Mann ist ein Vergewaltiger“ genauso irreführend ist, erfolgt wenigstens zu Beginn des Artikels eine Präzisierung: „Vergewaltigungen sind einer neuen Studie zufolge in einigen Ländern Asiens erschreckend häufig: Jeder Vierte der gut 10’000 befragten Männer in sechs Ländern gab an, schon mindestens einmal die eigene Partnerin oder eine fremde Frau zum Sex gezwungen zu haben.“
Einzig das deutsche Ärzteblatt scheint sich wirklich mit der Materie auseinandergesetzt zu haben. Denn hier ist nämlich zu lesen: „Die Forscher weisen daraufhin hin, dass die Querschnittsstudien zwar nicht den Zustand im gesamten asiatische und pazifischen Raum abbilden könnten, aber dennoch wichtige Hinweise zu einem weit verbreiteten Problem in der größten Bevölkerungsgruppe der Welt geben.“
Welchen Schluss kann man daraus ziehen? Vielleicht diesen: Wer als Tageszeitung schon mit derart sensationslüsternen Schlagzeilen um sich wirft, sollte zumindest den Aufwand betreiben, die beschriebene Studie überhaupt zu lesen. Wem diese Recherchearbeit als zu gross erscheint, der oder die sollte am besten einfach nicht darüber berichten.
(gegensprechanlage.cc, 21. September 2013)