Jede Gesellschaft zehrt von ihren Mythen. Unablässig speisen sie den zivilisatorischen Impetus und zirkulieren im kollektiven Gedächtnis. Eingeschrieben in Bilder, Texte, Wortfelder und Vorstellungen prägen sie die Strategien des Handelns.
In Zürich, der Stadt Zwinglis, ist es der Geist der Reformation und des Aufbruchs. Keine andere Schweizer Stadt hat sich die protestantische Ethik vorbildlicher einverleibt. Entscheidend ist das Prinzip der Gnadenwahl: Wer die Pforten zum Himmlischen Paradies durchschreiten darf, steht bereits vor der irdischen Existenz fest. Ein frommes Leben und weltlicher Erfolg können daran zwar nichts ändern, die Wahl ist längst getroffen. Dennoch gelten sie als Insignien der Auserwählten: Die Akkumulation von Reichtum und die ständige Re-Investition als die äusserlichen Zeichen eines gottgefälligen Daseins. Erst diese innerweltliche Askese erlaubt es dem Reichtum zum Selbstzweck zu werden.
Die Stadt Zürich ist aus ökonomischer Sicht wohl nur deshalb so erfolgreich geworden, weil sie dieser Utopie nie untreu wurde. Im Zeitalter der Krise, wenn der Verlust zur allgegenwärtigen Bedrohung wird, lässt sich das Symbolische am wirksamsten bewahren, indem man es materialisiert, das Utopische verwirklicht, dem Nicht-Ort (aus altgriechisch οὐ- ou- „nicht-“ und τόπος tópos „Ort“;) einen Ort gibt.
Mit dem Projekt Europaallee hat die Stadt dem eigenen Phantasma monetären Selbstzwecks eine physische Gestalt verliehen. Das Auge erblickt Chimären aus Stahl, Glas und Beton, die in ihrer reinen asketischen Geometrie auf fast exzessive Weise funktional sind. Die Fassaden erscheinen so unendlich wie transparent. Mauern sollen Schutz bieten, auch vor unerwünschten Blicken. Fenster erlauben dem externen Betrachter zumindest einen Teilausschnitt einer verborgenen Sphäre zu betreten. Sie nähren das visuelle Begehren. Wo Fenster normalerweise einen Einblick in Unzugängliche gewähren, dominiert hier die Totalität des Öffentlichen. Die Bauten wirken fast vollständig gläsern, sie sind reine Oberflächen des Zeigens. Verkörperte Macht, Zeichenträger kapitalistischer Potenz, pure Repräsentationsfunktion: An ihnen zeigt sich das geballte Ausmass ökonomischer Gewalt. Es stellt sich dar. Fenster werden zu Schaufenstern.
Diese Architektur verneint den Menschen, schliesst ihn aus und kann nur von funktionalen Objekten bewohnt werden: Die uniformierten Banker und Büroangestellten, die mit ihren Schreibtischen, Foyers und gespenstisch leeren Atrien zu verschmelzen scheinen. Die Verkäuferinnen und Verkäufer die in der barocken Fülle des eigenen Warensortiments unterzugehen drohen. „Come in, we‘re open!“ ist auf zahlreichen Schildern zu lesen. Als müsste man sich selber von der Illusion überzeugen, sich auf belebtem Territorium zu bewegen. Die Restaurants und Cafés in den sterilen Innenhöfen sind nicht weniger entvölkert. Sie gehorchen derselben Geometrie wie die Fassaden, kein Tisch, kein Stuhl, keine Lampe widersetzt sich dem Diktum des rechten Winkels.
Unweigerlich ergreift den Betrachter ein Gefühl des Unheimlichen, die ganze Szenerie erscheint gleichzeitig vertraut und unvertraut, strahlt eine unergründliche Fremdheit aus. Edward Hoppers Gemälde „Nighthawks“ als tableau vivant.
Obwohl steingewordenes Phantasma ist dieser Ort ein wirklicher Ort, ein wirksamer Ort, der in das Gefüge der Gesellschaft hineingezeichnet ist, eine realisierte Utopie, Triumph der Funktion, der gleichzeitig dennoch ausserhalb aller Orte ist.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Text-Kurses am MAZ