Mit dem Beginn der Wildsaison wird wieder mehr Hirschfleisch verzehrt. Das meiste davon wird allerdings aus Neuseeland importiert. Jürg Friederich aus Suberg gehört zu den wenigen Seeländern, welche die scheuen Tiere züchten.
Ein klarer Herbstmorgen in den Hügeln ob Suberg. Einzig Richtung Biel verharrt ein erstes Nebelband in einer Senke, die Landschaft ruht in unfasslicher Stille. «Ooé-ooé-ooé, hala-hala-hala» , ein fremdartiger Gesang zerreisst das Schweigen. Jürg Friederich hat seine Hirsche gerufen und die Tiere folgen seinen Worten.
Zwanzig Damhirsche dicht an dicht, Weibchen, Junge und ein Hirschbock, dessen imposantes Geweih die anderen überragt.
Seit fünf Jahren züchtet Jürg Friederich Hirsche. Obwohl die Haltung dieser Wildtiere einen landesweiten Boom erlebt, handelt es sich immer noch um eine Nische. Mehr als 12000 Dam‑, Rot- und Sikahirsche wurden 2014 in Schweizer Gehegen gehalten. Vor zehn Jahren waren es nicht einmal halb so viele. Dennoch: Die Hirschhaltung stellt nur für wenige Landwirte den Haupterwerb dar. Meist ist sie nur einer von mehreren Betriebszweigen, vor allem bei Bauern, die eine neue Verdienstmöglichkeit suchen, und für manche Halter auch nicht mehr als ein Zeitvertreib.
Ersatz für Schafe
«Es wäre mir nicht im Traum in den Sinn gekommen, Hirsche zu züchten», sagt Friederich während er Mineralstoffe unter das Futter – Äpfel und hartes Brot – mischt. Die Mineralien ersetzen die Felsen, an denen die Tiere in freier Natur lecken würden. Hirsche seien ungemein genügsam und deswegen sehr gut für Land geeignet, das nicht mit Maschinen bebaubar ist. Früher liess Friederich 30 Schafe auf dem hügeligen Land am Waldrand grasen, aber die seien einfach zu arbeitsaufwendig gewesen: «Die musste man scheren, die Klauen schneiden, entwurmen – alles Dinge, die bei Hirschen wegfallen. Es sind eben Wildtiere.» Gut, entwurmen müsse man sie einmal jährlich über das Futter, das mache aber kaum Arbeit.
Im April 2010 fing Jürg Friederich mit der Zucht an. Ein Hirschbock und zwölf tragende Hirsche wurden ins neu errichtete Gehege transportiert. Im Laufe des Sommers, nach einer Tragzeit von 32 Wochen, brachten die Damhirsche ihre Kälber zur Welt, die im Herbst 2011 schlachtreif wurden. «Die Hirsche sind uns in kurzer Zeit ans Herz gewachsen», sagt der Züchter, so dass die Zucht zeitweise auf 40 Tiere anwuchs.
Viele Vorschriften
Im Seeland bleibt Friederich ein Exot, da die hiesigen Landwirte die Hirschzucht noch nicht in grossem Rahmen für sich entdeckt haben. Gemäss Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Bern gibt es kantonsweit 115 Halter mit rund 2000 Hirschen. Von diesen Hirschhaltern entfallen lediglich zwölf auf das Seeland, unter anderem in Lätti, Rapperswil, Seedorf, Aarberg, Radelfingen, Rüti, Arch oder eben Suberg.
Warum sind es nicht mehr? Ein Grund könnten die anfänglichen Investitionen sein. Denn zu Beginn kostet die Haltung von Hirschen einiges an Zeit und Geld. Wer Hirsche halten will, muss gemäss Tierschutzverordnung über eine Wildtierhalte-Bewilligung verfügen. Für diese Bewilligung ist unter anderem eine fachspezifische, berufsunabhängige Ausbildung erforderlich. Ziel der Ausbildung ist, dass jeder Hirschhalter die Ansprüche und Eigenheiten seiner Tierart kennt, damit er sie tiergerecht halten, richtig ernähren und verantwortungsbewusst züchten kann.
Auch hinsichtlich der Infrastruktur gilt es Regeln zu befolgen. So musste Jürg Friederich sein 1,5 Hektare umfassendes Gehege mit einem zwei Meter hohen, feinmaschigen Zaun umschliessen; tagelang hat er deswegen drei Meter hohe Akazienholzpfähle in die Erde getrieben. Das ist nötig, damit die sprungstarken Fluchttiere nicht plötzlich Reissaus nehmen können. Rund 35 000 Franken kostet ein solcher Zaun. «Da wird keiner reich, in 20 Jahren bin ich vielleicht wieder bei Null», sagt Friederich scherzhaft.
Es gibt da diese Geschichte aus der griechischen Mythologie; Herakles muss die berüchtigte Kerynitische Hirschkuh einfangen – und benötigt dafür ein ganzes Jahr. Wer an diesem Morgen die Hirsche von Jürg Friederich beobachtet, dem scheint diese Dauer kaum übertrieben. Die Tiere sind unglaublich scheu. «Gwundrige Angsthasen», nennt sie der Züchter. 20 Augenpaare richten sich synchron auf jeden, der sich nähert, mit jedem Zentimeter, den man in ihre Richtung zurücklegt, weichen sie um einen Zentimeter zurück. «Im Moment sind sie besonders misstrauisch», sagt Friederich, «es ist sehr viel Unruhe in der Herde.» Das hat aber auch einen triftigen Grund. In den beiden Wochen zuvor sind einige der Tiere von einem eigens errichteten Hochsitz aus geschossen worden. Sonst seien sie zutraulicher, würden ihm gar aus der Hand fressen. Auch beim Abschuss gelten strenge Regeln: Die Tötung der Hirsche darf nur durch eine Person erfolgen, welche die dazu notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt. Als solche Person gilt, wer beispielsweise eine kantonale Jagdberechtigung besitzt.
Alles für den Dorfmetzger
In Suberg läuft es so ab: Ein Jäger kommt auf den Hof und schiesst eine bestimmte Anzahl Tiere, gezielt, nicht mit Schrotmunition. Dann muss es schnell gehen. Innerhalb von 45 Minuten muss der Hirsch verarbeitet werden. Für Jürg Friederich erledigt das die Metzgerei Widmer in Grossaffoltern, der Betrieb ist der fast alleinige Abnehmer von seinem Hirschfleisch. Obwohl die Metzgerei 20 bis 25 Kilogramm Fleisch pro Tier verkaufen kann, reicht das nicht lange. Suberger Hirsch ist sehr beliebt und sehr schnell ausverkauft, so dass man bei Widmers jeweils bald dazukaufen muss. Wer das Fleisch direkt ab Hof kaufen möchte, muss das bereits im Sommer vormerken. Das komme allerdings nicht sehr oft vor, so Friederich, da ein halber Hirsch eine ganze Menge Fleisch sei für einen Haushalt.
Dass Wildfleisch aus Schweizer Zucht noch ein riesiges Potenzial hat, zeigen auch die Importzahlen der Eidgenössischen Zollverwaltung. 308,6 Tonnen Wildfleisch sind im Jahr 2014 in die Schweiz eingeführt worden, ein Grossteil davon aus Neuseeland, aber auch aus der Tschechischen Republik, Frankreich, Slowenien, Australien und Südafrika. Lediglich 20 Prozent des jährlich in der Schweiz verzehrten Wilds stammen aus einheimischer Produktion.
(Bieler Tagblatt 16.09.2015)