Ein Plädoyer für das Ungeschönte -
Und plötzlich dieser Ekel. Nicht dieser herkömmliche, abjektive Ekel, der einen überkommen müsste, wenn man sich mit Fäulnis, Tod, Verwesung konfrontiert sieht. Nein, anders. Die unmittelbare Begegnung mit reinster Oberflächlichkeit. Ein Küchlein, glatt polierter Körper, dunkelbraun, eine zur Kuppel gemeisselte Haube, mit gezuckerter Blüte dekoriert. Ein Cupcake. Oh, diese Konfliktlosigkeit, diese Kleinbürgerlichkeit, diese Verlogenheit, diese Stereotypisierung, diese Zurückgebliebenheit, diese Wirklichkeitsflucht, diese falsche Geborgenheit dieses dümmlich Tröstende – wie widerwärtig! Ekel, der in zuckenden Wucherungen das Gewebe des ästhetischen Bewusstseins durchdringt. Ein existenzieller Ekel, ein Ekel, genährt durch Erkenntnis, die Erkenntnis, sich einem bis zur Totalität entfremdeten Gegenstand gegenüberzusehen. Denn was ist denn ein Cupcake anderes als Ausdruck einer radikalen Naturverneinung? Eine bis zum Exzess getriebene Künstlichkeit, die mit Verheissungen einer einfacheren, sichereren, überschaubaren Welt lockt. Ausdruck einer kindlichen Sehnsucht nach einem verlorenen, reinen, sauberen, gesitteten Paradies, wo der Lattenzaun blendend weiss, die Hecke chirurgisch genau gekappt und die Moral noch herrschend ist. Wo die keusche, brave Hausfrau den sie ernährenden Gatten mit reflexartiger Unterwürfigkeit mit Selbstgebackenem in Empfang nimmt.
Man möchte es laut hinausschreien: Alles ist grundlos, dieses Ding, diese Strasse, diese Stadt! Wenn es geschieht, dass man sich dessen bewusst wird, dreht es einem den Magen um, und alles beginnt zu schwimmen. Das ist der Ekel! Durch das Gewebe der falschen Küsten und falschen Sicherheiten, der Blendungen und Lügen hindurch erscheinen nun alle Phänomene in ihrer ungeschminkten Künstlichkeit. Und diese kalkulierte Gefühlsverlogenheit sollen wir etwa noch essen? Sicher ist das nicht, scheint es sich doch bei dieser Art von Gebäck mehr um Dekorationsobjekt, denn um ein Nahrungsmittel zu handeln. Nur der schöne Schein der in Zucker gegossenen Oberfläche ist primär, wen kümmert denn schon der Geschmack? Oder weshalb sind diese Cupcake-Stores von Designerboutiquen kaum zu unterscheiden? In verschnörkelten Etageren prangen sie inmitten von getüpfelten Schürzen, getüpfelten Blusen und getüpfelten Topflappen. Dieses Fassadengebäck – perfekte Modelierung ideale Verkörperung einer wirklichkeitsfeindlichen, naturfeindlichen Ästhetik.
Ist diese Ähnlichkeit nicht zum kotzen? Der Cupcake und der idealschöne klassische Statuenkörper der Griechen – das selbe Prinzip: Falten, Runzeln, Warzen, sichtbare oder zu grosse Körperöffnungen, austretende Flüssigkeiten – all dies verschwindet unter der glattpolierten Kontur des ästhetischen, des schönen Körpers. Nur gesundes Fleisch ohne jegliche schwülstig wuchernde Ausdehnung. Eine reine Diesseitigkeit: Das Körperinnere, die inneren Organe, sowie alle Prozesse des Ausscheidens bleiben unter der schönen Fassade unsichtbar. Als ob es kein Inneres gäbe.
Der extrem gestylte Ideal-Körper als Ausdruck des Gesunden. Die ewige Jugend der Götter als ideales Alter des klassischen Körpers. Die Vermeidung und Verdrängung jeglicher Mäkel, jeglicher Anzeichen des Verfalls, durch fortlaufende Selbstoptimierung. Lauft in eure Fitnesstempel, steht auf eure Körperfettwaagen und drillt euren Speiseplan! Sind die Kurven zu üppig, der Hintern zu schlaff, das Sixpack zu undeutlich; nun gut, werft den Photoshop an, retouchiert euch und postet euer Bildnis in den social networks! Glattpolierte, hochglänzende, desinfizierte, feingeschliffene, klinische, fett, falten- und kalorienfreie, spiegelnde, gephotoshopte Fassadenwelt. Leibesertüchtigung auf dass der Leib nicht verfalle, asketische Regime der Diät, ein idealer Körper müsste gar nicht mehr essen. Als ob es keinen Tod gäbe. Leugnung, Verdrängung, Verneinung, dass man sterblich ist. Wer den Tod verneint, verneint die Natur – wie beim Körper, so beim Verzehren.
Ist die Molekularküche nicht die in extremis kultivierte Todesverdrängung? Maximale Entfremdung der Zutaten, neue Formen, neue Aggregatszustände. Ingredienzien werden zu Extrakten, Extrakte werden zu Sphären, kugelförmige Aussenhüllen umschliessen flüssige Kerne – die Dämpfe flüssigen Stickstoffes verkünden die fortwährende Konservierung, ewiges Leben auf der Tafel. Das Phantasma der Unsterblichkeit durch Kryogenisierung. Wer käme hier noch auf die Idee, dass das auf dem Teller einmal gelebt hat, gestorben ist, tot ist? Wie ikonisch wirkt hingegen dieser Cheeseburger unter der Glasglocke, der über Monate hinweg nicht zu schimmeln beginnt, nicht verwest, sich dem Verfall widersetzt! Was ist daran denn natürlich? Was natürlich ist, kann sterben, kann zerfallen. Die Natürlichkeit unseres „natürlichen“ Todes ist nicht weniger illusionär als dieses verlogene Schauspiel. Der „natürliche“ Tod – das ist eine ideale, eine genormte Form des Todes, die sich allein der wissenschaftlich-technischen Möglichkeit verdankt, die Grenzen des Lebens hinauszuschieben. Der natürliche Tod tritt ein, wenn die Grenze, das Ende des Lebens erreicht ist, wenn die Anhäufung von Lebenskapital ihr Ende gefunden hat. Dieser Tod gehört nicht zur „natürlichen“ Ordnung der Dinge, er stellt vielmehr eine Anomalie dar, die sich der Rechtsprechung durch die Wissenschaft entzogen hat. Der Tod gilt als unmenschlich, sinnlos, irrational- wie die Natur, die es zu beherrschen gilt.
Genug! Schluss damit! Wer genau hinsieht, hinhört, und seine Sensibilität auf die mannigfaltigen Strömungen dessen richtet, was gemeinhin Zeitgeist genannt wird, dem wird es nicht entgangen sein. Die Zeichen stehen auf Sturm. Es sind neue Zeichen einer exzessiven Lebensbesessenheit. Einer Sucht nach ungebändigter Lebendigkeit, die dem Tod geradewegs ins Auge blickt und den Neospiessern mit aller Kraft die diskursive Faust in die Fresse schlägt. Wie sündig, diese Wiederkehr des Verdrängten! Als ob plötzlich tausend Kehlen auf einmal schrieen: Heute bringe ich euch ein Rauschgift, das von den Randbezirken des Bewusstseins, von den Grenzen des Abgrunds kommt! Sprechen wir es doch einfach aus: Fuck you, Cupcake! Wir wollen den Tod wieder spüren, zurück zur Natur! Zurück zum Rohen, Wahren, Authentischen, Ungeschönten! Sehen wir die Natur als das, was sie ist! Das ist Tod, Fäulnis, Gährung, Gestank, Schimmel! Bejahen wir die kreatürlichen Funktionen des Leibes! Bewundert den Körper, den schwitzenden, behaarten, verpickelten, verfetteten, schwitzenden, stinkenden, scheissenden, pissenden, fickenden, alternden, faltigen, runzligen Körper!
Und so wollen wir wieder essen! Was gibt es Schöneres, als genüsslich in einen verschrumpelten, mit Schimmel überzogenen Rinderrücken zu beissen! Knochengereiftes Fleisch als Offenbarung. „Dry Aging“ – welch wundervolles Paradox! Reifung, um den Tod zu beleben. Fleisch muss reifen, damit die Totenstarre verschwindet. Ein Tier stirbt, der Stoffwechsel kommt zum Erliegen, Mangel an Adenosintriphosphat in der Muskulatur. Die Proteine verharren in starrer Bindung. Die Zeit bringt Zartheit. Von Glykogen getränkte Muskulatur, Oxidation, Auftritt der Milchsäure. Bei lebenden Rindern baut der Blutkreislauf die Säure ab. Ist das Tier tot, bleibt sie in den Muskeln. Die Säuerung des Fleisches aktiviert Enzyme, die Enzyme spalten erstarrtes Muskelprotein, eine kontrollierte Verwesung nimmt ihren Lauf, einen Monat lang. Süsslich hefeduftender Moschus, mürber, ranziger Schweiss, welch abstossende Verlockung. Rotes Fleisch, dunkles Fleisch, schwarzes Fleisch, hartes, verkrustetes Fleisch, von weissem Flaum überwuchert. Die Reifekammer als Kathedrale eines neuen gastrosophischen Zeitalters. Riesige Brocken an Haken, statt vakuumierter, sauber parierter, von jeglichem Fett und jeglicher Verunreinigung befreiter Filetstücke.
Konservatives Denken: Beim Essen geht es immer um Transformation, entweder man bereitet es zu und übergibt es damit dem Bereich der Kultur oder man bereitet es nicht zu und dann verfault es. Fäulnis als Zubereitung, wie ketzerisch wäre das denn? Vielleicht schliesst erst ein Kult der Verwesung den gähnenden Abgrund zwischen dem was als Natur und dem, was als Kultur gilt.
Wie diese neue Natürlichkeit denken? Und leben? Reinbeissen mit der ganzen Kraft des Kiefers, statt den Spuren einer vergangenen Konsistenz nachspüren während man sich ein vakuumgegartes Charolaisrind als aufgespritzten Schaum auf der Zunge zergehen lässt. Makroskopisch essen, nicht molekular! Von offenem Feuer versengtes Fleisch statt Elektrogrill und Rauchspray. In Argentinien gibt es den „asado con cuero“. Diese genüssliche Orgie, ganze, unzerlegten Tiere am Stück gegrillt, und das kann mehrere Tage dauern. Heute wird ein junges Kalb in Teile geschnitten und in eine Grube gelegt. In dieser Grube wird mehrere Stunden Feuer geschürt. Mit dem Fell auf der Erde, wird das Fleisch verhüllt mit einem großen Zinkblech auf dem die Glut ausgebreitet wird. Oder diese aufgeklappten Schafe, die auf ein Eisenkreuz gespannt werden und über glühenden Kohlen prangen. Welch wunderschön barockes memento mori!
Sich wieder als Jäger fühlen, wenn das Fleisch als riesiger Brocken auf dem Teller lockt. Als ob man das Tier auf der Tafel ein zweites mal erlegen müsste, indem man das geschärfte Messer ins Gewebe treibt, es zerhackt, zersägt, entbeint. Liegt das auf die Spitze getriebene Ideal dahinter nicht in den Exzessen des Dionysoskults? Im griechischen Mythos ist Dionysos der Sohn des Zeus und der Sterblichen Semele, Tochter des Kadmos, des Gründers Thebens. Hera, die Frau des Zeus, lässt in ihrer rasenden Eifersucht das Neugeborene bei lebendigem Leibe von Titanen zerreissen. Rhea fügt aus Mitleid mit ihrem Enkel die Teile wieder zusammen. Diony- sos vereint («der zweimal Geborene») in sich die Opposition von Leben und Tod. Er ist die Gottheit der Sinnlichkeit und des Lebens, Dendrites, die Kraft in den Bäumen; Anthios, der Blütenbringer; Karpios, der Fruchtbringer; Phleos, der Überfluss des Lebens. Dionysos, Gott der Auflösung, des Todes, des Rausches und der Ekstase; reine Verkörperung von Obszönität, Wahnsinn, archaischer Triebhaftigkeit und blutberauschtem Exzess. „Wohlgefallen findet beim Gott, wer in den Bergen nach rasendem Lauf hinfällt auf die Erde, in heiliges Gewand des Hirschkalbfells gehüllt, und lechzt nach dem Blut des getöteten Bockes, dem Genuss rohen Fleisches“, heisst es bei Euripides.
Lebendiger Verzehr
Das Leben im Tod spüren, das ist die letzte Konsequenz und bei weitem kein mythologisch überhöhter Traum. Im Film „Oldboy“ wird der Protagonist 15 Jahre lang im selben Zimmer gefangen gehalten. Als er sich befreien kann, betritt er eine Sushibar und verzehrt einen lebenden Oktopus. Für ihn ist das der unmittelbarste Akt, um sich der Tatsache zu versichern noch am Leben zu sein, dass die Jahre der Isolation ihn nicht getötet haben.
In Japan kennt man „Ikizukuri“, Fisch, bei lebendigem Leibe tranchiert. Das noch zuckende Tier liegt inmitten seines eigenen filetierten Körpers: Man labt sich am Gewebe der Seebrasse, während die elektrischen Impulse des kollabierenden Nervensystems den Leib in pulsierender Agonie verharren lassen.
Essen ist Begehren.
Wer essen will, strebt nach dem Anderen, will etwas sich einverleiben, will, dass es ihm gehört – zu ihm gehört. Wer etwas verzehrt tritt in nächstmöglichen Kontakt mit der Aussenwelt, um es zu seiner Innenwelt zu machen. Durch Zerbeissen, Zerkauen, Zermalmen, Zerkleinern – bis zur Verflüssigung und Auflösung in den Säurebädern des Verdauungstraktes. Ein Objekt der Begierde verschwindet in einem Akt der Vernichtung, um Körper zu werden. Teil des eigenen Körpers. Die radikale Aufhebung von Distanz und die Herstellung von Vereinigung – Appetit und erotisches Begehren gehorchen demselben Prinzip.
Und ja, vielleicht stimmt es auch, dass wir hier lediglich nach Natürlichkeit schreien und uns mit deren industriell modulierten Imitation zufriedengeben. Vielleicht stimmt es, dass wir hier lediglich Zuflucht suchen, bei neuen Mythen der Natürlichkeit, uns sonnen im Subjektivismus eines Sich-wohl-und-lebendig-Fühlens, und uns erwischen, bei der Fetischisierung eines vermeintlich verlorengegangenen Urwissens. Sind wir denn bloss einer gewaltigen Inszenierung einer fiktiven Ursprünglichkeit auf den Leim gegangen? Sehr wahrscheinlich. Doch das ist unwichtig. Relevant bleibt nur:
Statt einer Lifestyle-Eudämonie benötigen wir eine neue Erotik des Verzehrs.