Die Empörung über das russische Vorgehen auf der Krim ist gross. Zu den kritischen Stimmen gehört auch eine Ukrainerin aus der Region Biel. Der Ausbruch der Krise sei für sie ein Schock gewesen.
Ein belebter Platz in Bern. Menschenströme kreuzen sich unablässig. Und plötzlich steht sie vor mir. Sie trägt einen Notizblock, so wie ich – damit wir uns erkennen. Ich solle sie Yelena nennen. Eine 40-jährige Frau. Ihr gewelltes, dunkelbraunes Haar fällt in ihr filigranes Gesicht. Trotz der frühlingshaften Wärme trägt sie einen langen schwarzen Herbstmantel. Eine elegante Erscheinung durch und durch. «Ich hoffe, ich habe noch kein Polonium abgekriegt», sagt sie mit einem leichten Akzent. Das mag sarkastisch klingen, doch die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme macht einem sofort klar: Das ist kein Scherz.
Die Anspielung auf den prominenten Putin-Gegner Alexander Litwinenko, der 2006 in London mit der radioaktiven Substanz vergiftet wurde, ist durchaus ernst gemeint. «Komm nicht her, triff dich nicht mit Journalisten. Denk an deine Kinder», hat ihr Vater sie gewarnt. Die Angst sitzt tief. Dennoch, Yelena spricht mit ruhiger Stimme, wählt ihre Worte mit Bedacht. Sie arbeitet als Bauingenieurin, hält sich seit 2001 in der Schweiz auf und wohnt in der Region Biel. Mehr will sie nicht verraten, sie will über ihr Heimatland, die Ukraine sprechen.
«Ein Streit ohne Grund»
«Heimat», dieser seltsame Begriff. Für Yelena hat er nichts Harmonisches, sondern steht für den Konflikt: Als Tochter einer Russin und eines Ukrainers weiss sie das nur zu gut. Spannungen zwischen Ukrainern und Russen habe es seit jeher gegeben, erklärt sie. Im Ukrainischen gebe es eigens ein Wort dafür: «chochlosratsch», was soviel bedeutet wie «ein Streit ohne Grund». Ohne Grund deshalb, weil in erster Linie nicht machtpolitische Motive eine Rolle spielten, sondern unterschiedliche Mentalitäten.
«Der Ausbruch der Krise war für mich ein Schock. Putin betrachtet die Ukraine nicht als eigenständiges Land, sondern als seinen Besitz.» Sie spricht nach wie vor ruhig, wenn auch mit einem spürbaren Hauch von Verzweiflung. Yelenas Eltern leben im Südosten der Ukraine, in der Nähe von Saporischschja, der sechstgrössten Stadt des Landes. Sie spricht fast täglich mit ihren Eltern. Sie schildert mir deren Hoffnungslosigkeit. Von der Krim hätten sie sich längst verabschiedet, sie fühlten sich völlig machtlos.
Nicht so Yelena. Seit letztem Dezember ist sie politisch aktiv. Sie beschäftige sich mit dem Informationsfluss im Internet. Was das denn heisst, will ich wissen. Sie kämpfe für die Freiheit der ukrainischen Medien, die letzten beiden unabhängigen TV-Stationen hätten diesen Kampf verloren, doch über Blogs und soziale Netzwerke sei viel möglich. Die Lügen der russischen Propagandamaschinerie hätten bereits zu viel Schaden angerichtet.
Was sie damit meint, wird umgehend klar: «Ich habe fast alle meine Freunde verloren. Weil sie Russen sind, glauben sie die russischen Lügen. Wir sind keine Nationalisten und keine Faschisten.» Auch der Vorwurf, die Maidan-Proteste wären vom Westen mit Hilfe von Söldnern initiiert gewesen, sei haltlos. «Es war kein Geld, das die Menschen antrieb, auf die Strasse zu gehen, sondern die Hoffnung. Hoffnung auf ein Ende dieses undemokratischen Systems.»
«Betrunken vor Freiheit»
Woher diese Hoffnung stamme? Jetzt kommt sie in Fahrt, erzählt mir vom Jahr 2004, von der Orangenen Revolution: «Als Juschtschenko zum Präsidenten gewählt wurde, waren wir förmlich betrunken vor Freiheit. Eine neue Verfassung, eine neue Perspektive. Europa war näher gerückt, wir hofften auf eine funktionierende Demokratie.»
Jetzt spricht Yelena vom Scheitern dieses Traums. Davon, wie sich Juschtschenko mit seiner Gefährtin Timoschenko zerstritt, wie deshalb die Opposition zerbrach. Davon, wie Janukowitsch an die Macht gelangte, die Verfassung änderte, sich die Machtfülle eines Monarchen verlieh. Wie er ein kriminelles Netzwerk aufbaute, dessen Verflechtungen erst in den letzten Wochen ans Licht kamen. «Janukowitsch war die ganze Zeit nichts als eine Marionette von Putin», sagt sie.
Putin, sagt sie, sei ein Machtmensch, aber kein Stratege. Er agiere wie ein Schachspieler, der nur drei bis vier Züge vorausdenke: «Putin hat die Büchse der Pandora geöffnet und merkt es gar nicht.» Beim Krim-Referendum überlasse er nichts dem Zufall. Er würde nicht abstimmen lassen, wenn er sich nicht sicher über den Ausgang wäre. «Er weiss zu gut, dass ein Votum für Russland auch heute unter fairen Bedingungen nicht garantiert ist. Weshalb sonst lässt er russische Soldaten auf der Krim einmarschieren? Er will um jeden Preis verhindern, dass sich eine Gegenbewegung formieren kann.» Wohin diese Entwicklung aber längerfristig führe, daran denke in Russland kaum jemand. Im schlimmsten Fall drohe ein Krieg. «Putin versteht uns nicht. Er kann nicht verstehen, dass wir für Selbstbestimmung kämpfen. Genau das macht ihn so gefährlich.»
Am Scheideweg
Für Yelena ist klar: Der Westen steht am Scheideweg. Jetzt hätte er die einmalige Chance, Putin Einhalt zu gebieten, durch die volle Wucht wirtschaftlicher Sanktionen. Hier sei er verwundbar. Der Informationskrieg hingegen drohe verlorenzugehen. «Die Propaganda der russischen Medien will der Welt weismachen, dass das Volk geschlossen hinter Putin stehe. Doch das ist eine Lüge.» Warum sie trotzdem weiterkämpfe? Weil noch lange nicht alles verloren sei. «Kein Mensch, der bei Verstand ist, will sich von so einem Diktator beherrschen lassen. Auch nicht alle Russen.»
Nach diesen Sätzen verabschiedet sich Yelena und verschwindet in der Menge. Ihre Worte haben etwas Prophetisches. Denn just einen Tag nach diesem Gespräch demonstrierten in Moskau 50′ 000 Menschen gegen Putins Ukraine-Politik.
Info: Das Gespräch wurde zwei Tage vor dem umstrittenen Krim-Referendum geführt.
Bieler Tagblatt, 20.03.2014