Was ist real, was ist Täuschung? Die Fotografin Delphine Burtin beherrscht dieses optische Verwirrspiel perfekt. Jetzt wurde die Lausannerin mit dem «Prix Photoforum» ausgezeichnet.
Die Verwirrung dauert meist nur kurz. Oft währt sie nur für den Bruchteil einer Sekunde. Doch sind es ebendiese Momente, die das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung erschüttern können. Da sind Treppen, die scheinbar nahtlos ineinander übergehen, in einem Raum, der kein Innen und Aussen zu kennen scheint.
Die Fotografin Delphine Burtin erschafft Bilder, die einen etwas sehen lassen, das nicht ist. Abbilder, denen in der Realität nichts entspricht – auf den ersten Blick.
Im Schweizer Französischen gibt es den Begriff «encouble», der etwas bezeichnet, was einen stört, was lästig ist, einen verunsichert und peinlich berührt zurücklässt. «Encouble», so heisst auch die Serie von Fotografien, für welche Delphine Burtin am vergangenen Samstag mit dem «Prix Photoforum 2013» in Biel ausgezeichnet wurde.
«Seh-Unfälle»
Die 39-Jährige lebt und arbeitet in Lausanne. Ihr Atelier, das in einer ehemaligen Schlosserei untergebracht ist, teilt sie sich mit anderen Künstlern, Fotografen, Grafikern und Filmemachern. «Eine sehr kreative Umgebung»,sagt sie. Dennoch fände sie ihre Inspiration nur selten innerhalb dieser Wände. Besonders im Falle von «Encouble». Sie könne sich nicht einfach hinsetzen und neue Ideen für Motive ersinnen, vielmehr hänge das fast immer mit unvorhergesehenen Momenten, nicht planbaren Erlebnissen zusammen. «Seh-Unfälle» nennt sie das, Verunglückungen, Fehlleistungen, Anomalien im Prozess des Wahrnehmens: «Überrascht von dem, was ich meine, gesehen zu haben, muss ich innehalten und die Wirklichkeit neu überprüfen. Ausgehend von diesen kleinen Erfahrungen bekam ich Lust, die Serie zu konstruieren.»
Spiel mit der Geometrie
Den eigenen Erlebnissen einen persönlichen Ausdruck verleihen. Aus diesem Grund hat sich Delphine Burtin, die gelernte Grafikerin auch der Fotografie zugewandt. Fotografie und Grafik ergänzen sich bei ihr gegenseitig, gemeinsam ist ihnen das Spiel mit der Geometrie. Und so sind die Spuren von Burtins früherer Tätigkeit noch äusserst präsent und spürbar: «Meine Bilder kreiere ich fast ein wenig so, wie man ein Layout gestaltet. Formen, Objekte und Texturen anordnen und strukturieren innerhalb eines gegebenen Rahmens, und dabei versuchen, das Auge des Betrachters im Raum zu lenken und ihn sehen zu lassen, was ich möchte.»
Gelenkte Blicke
Delphine Burtin fotografiert fast immer banale Gegenstände. Treppen, Mauern, eine Kartonschachtel oder eine Mandarine. Dinge, denen wir jeden Tag begegnen, anonyme Objekte des Alltags. Allerdings experimentiert sie mit der Wirkung von Farben, Formen, Linien und Flächen aufeinander, mit der Subjektivität der optischen Wahrnehmung. Ganz gemäss dem Diktum eines ihrer grossen Vorbilder, Josef Albers: «Nur der Schein trügt nicht».
Die Serie «Encouble» beinhaltet mehrere Arten von Bildern. Einerseits sind das Fotos von Objekten, die gedruckt, zerschnitten, gefaltet und erneut fotografiert wurden. Beispielsweise eine Mandarine, die durch die Geometrie des Bildhintergrunds zerteilt wird. Andererseits sind aber auch Bilder darunter, die in keiner Weise manipuliert worden sind. Lediglich durch natürliche oder künstliche Beleuchtung wird der Blick des Betrachters gelenkt und in die Irre geführt. Die Eingangs beschriebenen Treppen etwa.
Das erzeugt Bilder, die nicht dem «natürlichen» Sehen des Menschen entsprechen. Diese subtile Referenz auf Manipulationsmöglichkeiten der Wirklichkeit durch die Kamera und die Person hinter der Kamera zielt auf einen bestimmten Mythos: Die seit dem Beginn der Fotografie bestehende Auffassung, dass Realität objektiv abgebildet werden kann.
Räumliche Erfahrung
Der Prix Photoforum ist für Burtin auch in künstlerischer Hinsicht ein Gewinn: «Erstmals kann ich meine Arbeiten auch räumlich präsentieren. » Damit «Encouble» seine irritierende Wirkung auch räumlich erfahrbar ausstrahlen kann, dürfen die einzelnen Aufnahmen nicht einfach an eine Wand gehängt werden. Individuell positioniert verschmelzen siescheinbar mit den Wänden und fliessen fast in den Raum hinein. Ungewöhnlich, mag man meinen. Bei Delphine Burtin ist es Normalität.
Bieler Tagblatt, 09.12.13