In «Albert Thebell, Physiker und Fälscher» erliegt ein Hochstapler den Verlockungen des Ruhms und scheitert. Gianfranco D’Annas Wissenschaftskrimi ist beim Bieler Verlag die Brotsuppe erschienen.
«Wenn die Fakten nicht mit der Theorie übereinstimmen, ändere die Fakten». Es ist nur schwer vorstellbar, dass ein herausragender Wissenschaftler dieses Einstein-Zitat als Aufforderung zum Betrug verstehen könnte. Dass es aber sehr wohl möglich ist, stand spätestens am 21. September 2002 fest: Eine Untersuchungskommission kam zum eindeutigen Ergebnis, dass der deutsche Physiker Jan Hendrik Schön in nicht weniger als 16 Fällen Messdaten gefälscht hatte.
Es ist ein Wissenschaftsskandal, der bis heute seinesgleichen sucht. Schön galt bis dahin als Wunderkind der Physik, das in den renommierten Bell Laboratories in New Jersey fast im Wochentakt bahnbrechende Erkenntnisse produzierte. Schöns Mentor, der Festkörperphysiker Bertram Battlog, war von den Triumpfen seines Schützlings zu euphorisiert, um zu merken, dass er einem Betrüger aufgesessen war.
Indirekter Zeuge
Dass die Geschichte dieses ungeheuerlichen Betrugs nicht schon früher von der Kunst aufgegriffen wurde, mag fast ein wenig verwundern. Vielleicht war es aber auch nur einem Physiker wie Gianfranco D’Anna möglich, die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze, die diesen Skandal überhaupt erst ermöglicht haben, zu erfassen. Als indirekter Zeuge jener Vorfälle (D’Anna arbeitete ebenfalls in den «B‑Labs») erzählt er vom tiefen Fall des Jan Hendrik Schön.
Im Roman «Albert Thebell, Physiker und Fälscher», der beim Bieler Verlag die Brotsuppe erstmals auf Deutsch erschienen ist, heissen die Akteure nun Albert Hendrik Thebell (Jan Hendrik Schön) und Bartholomäus Bischof (Bertram Batlogg). Ausgehend von den Fakten des Betrugs versucht der Text die Fragen zu beantworten: Wie könnte es gewesen sein? Was mag in Thebell vorgegangen sein?
Fatale Kettenraktion
Thebell deklariert eines Tages versehentlich statistische Hochrechnungen als gesicherte Messwerte. Als Bischof in diesen Befunden eine wissenschaftliche Sensation erkennen will, unterlässt es Thebell, auf seinen Fehler hinzuweisen – und löst damit eine fatale Kettenreaktion aus. Die Verlockungen des Ruhms sind vorerst stärker als die Schuldgefühle. Thebell beginnt, bewusst zu fälschen und liefert nun Bahnbrechendes am Laufmeter. Die Medien feiern ihn als Genie, bald gilt er als künftiger Nobelpreisträger. Sein falsches Spiel findet jedoch ein abruptes Ende.
Wissenschaft als Krimi
D’Annas Roman überzeugt durch einen originellen Spannungsbogen: Der Täter steht von Anfang an fest, man erfährt jedoch sukzessive, wie das Lügengebäude in sich zusammenbricht. Unablässig treibt den Leser die Frage an, wie lange sich der Fälscher noch halten kann. Der Erzähler ist Augenzeuge: Durch die Exaktheit der Schilderung werden die teilweise sehr exzentrischen Physiker in ihren Laboratorien fast körperlich erfahrbar. Bei Thebell dringt dieser Blick bis in die Gedankenwelt: Episoden des Haderns («In welchen Schlamassel hatte er sich da nur hineinmanövriert?») wechseln sich ab mit reiner Verblendung («Niemand hatte je in so kurzer Zeit so viel Gutes produziert.»). Das Risiko, entlarvt zu werden, wächst mit jeder Publikation – und dennoch kann er nicht aufhören. Ein Genie muss schliesslich Ergebnisse produzieren. D’Anna beschreibt dieses Dilemma äusserst packend und zeigt gegen Ende einen verzweifelten Menschen, dem sein Labor längst zum Gefängnis geworden ist.
Sind diese Wissenschaftler wirklich hinter der Wahrheit her oder nur um eine möglichst hohe Reputation bemüht? Eine klare Antwort gibt das Buch nicht. Es beschreibt Menschen, die von der Unschuld der Tatsachen so sehr überzeugt sind, dass sie sich täuschen lassen: Denn wer felsenfest davon ausgeht, dass Messwerte nicht lügen, der kann auch einem Betrüger auf den Leim gehen. Dabei geht es nur teilweise um die persönliche Schuld Thebells. Auch der Wissenschaftsbetrieb steht unter Anklage – ein System, in dem die Länge der Publikationsliste wichtiger erscheint als die Qualität der Forschung, ein System, das Menschen einzig an ihren Erfolgen misst und sie am Ende zerstört.
Bieler Tagblatt, 19.05.2014