Über die Mimik von Ryan Gosling in “Drive”
Er trägt keinen Namen. Niemand weiss, wo er herkommt. Vor fünf, sechs Jahren ist er einfach aufgetaucht. Er verdingt sich als Fahrer, wird zum Gegenstand, den man benutzen kann. Tagsüber als Stuntman beim Film, nachts am Steuer eines Fluchtwagens. „Sie haben ein Zeitfenster von fünf Minuten. Innerhalb dieser fünf Minuten können Sie über mich verfügen. Ohne Wenn und Aber.“
Wenn der Driver hinter dem Steuer sitzt, lebt er nicht, er funktioniert: Lakonisch bis verschwiegen spricht er kein einziges Wort zuviel. Sowohl Gestik als auch Mimik sind auf ein Minimum reduziert, der Blick stets fokussiert. Hinter dem Steuer gäbe es nichts, was er nicht könne. Die perfekte Beherrschung seines Autos, seiner Maschine hat selbst etwas mechanisches, etwas maschinelles. Maschinen sind berechenbar, Maschinen sind beherrschbar.; mit ihnen versteht er sich.
Ryan Gosling spielt den Driver mit einem derartigen Stoizismus, dass das Menschsein der Figur selbst zunächst fraglich ist. „Du siehst aus wie ein Zombie!“, wird ihm an einer Stelle gesagt. Gefühlsregungen, Leidenschaften und Begehren scheinen im Dasein des Drivers keinen Platz zu haben. Seine Wohnung ist vollkommen frei von persönlichem Besitz und ähnelt in ihrer Leere eher einem Aufbewahrungs- als einem Lebensraum. Begibt er sich nach draussen, wird er scheinbar eins mit den Freeways, die den hypnotisch pulsierenden Organismus des nächtlichen Los Angeles wie biomechanische Adern durchziehen.
Nur in der Gegenwart seiner Nachbarin Irene (Carey Mulligan) und deren Sohn Benicio bilden sich Risse in der gefühlskalten Fassade. Die versteinerten Gesichtszüge weichen immer wieder einem sanften, verschüchterten Lächeln. Immer wieder dieses Lächeln. Insbesondere, als der Driver mit Irene und Benicio einen Ausflug zu einem Teich unternimmt. Aus dem Off erklingt die Liedzeile „A real human being“, als wolle man mit Nachdruck betonen „Ja, das ist ein Mensch.“ Für die Rolle des Drivers braucht es keinen Schauspieler mit bloss reduzierter Mimik. Gosling ist für diesen Part deshalb die Idealbesetzung, weil er mit seinem minimalistischen Spiel die ganze Ambivalenz der Figur in ihrer extensiven Komplexität zur Geltung bringen kann. Eine stoische Maschine, die zwischen zwei Extremen oszilliert: Hinter der versteinerten Mine befindet sich zum Einen ein schüchterner, liebenswürdiger, sensibler, fast naiv anmutender Mensch. Jemand, der Irenes Auto repariert, sie nach Hause fährt und ihr die Einkaufstüten abnimmt. Jemand, der seine Liebe nicht in dem, was er sagt, ausdrückt, sondern in subtilen Gesten der Zurückhaltung.
Andererseits lauert etwas unter der erstarrten Mimik, etwas rohes, brutales, das unter der Oberfläche brodelt und mit aller Gewalt seine Freisetzung sucht. Die Gewalt taucht stets explosiv und eruptiv auf, mit äusserster Härte und Unbarmherzigkeit. Eine Hand wird mit einem Hammer zertrümmert, ein Mann mit einer Eisenstange gepfählt, ein Gesicht wird solange getreten bis der Schädel nachgibt. In diesen kurzen schockhaften Momenten tritt ein Monstrum zutage. Die Gesichtszüge sind bis zum Zerreissen gespannt, jeder Gesichtsmuskel scheint zu vibrieren.
Erst, als die Gewalt auch ihn bedroht, scheint der Driver für den Hauch eines Augenblicks zu zerbrechen. Sein Ersatzvater und Boss Shannon (Bryan Cranston) wird ermordet und auch Irene und Benicio geraten ins Visier der Killer. Erstmals strahlt seine Mine eine tiefe Traurigkeit aus, er hat Tränen in den Augen, vergräbt sein Gesicht in den Händen, wirkt fast panisch. Diesen Gefühlsausbruch darf er nicht zulassen. Will er sein letztes Gefecht, seine Vergeltung, muss er wieder zur gefühllosen Maschine werden. Der Driver setzt sich eine Maske auf, die ultimative Repression jeder Emotionalität: Die Haut als letzte Demarkationslinie zwischen Innen und Aussen, Gefühl und Reiz. Ihre Verdoppelung mittels Maskierung lässt das Innere, wo es bleiben soll, im Verborgenen. Gleichzeitig simuliert sie Unverwundbarkeit.
Nun kann er seinen Rachefeldzug unerbittlich zu Ende führen, nicht einmal Messerstiche können ihm jetzt noch etwas anhaben. Der Driver fährt hinaus in die ewige Nacht, aus der er einst gekommen ist.
(Textübung im Seminar Filmkritik an der SAL Zürich)