Es ist eine Geschichte des Scheiterns: der Philosophie, der Liebe, des Bewusstseins. Das Debüt des Bieler Autors Heinz Helle ist ein hypnotischer Trip in das Innenleben eines ruhelosen Denkers.
«Ein junger Mann kommt in eine Stadt. Er hat keinen Namen, kein Zuhause, keine Arbeit: Er ist in die Stadt gekommen um zu schreiben. Oder genauer: Er schreibt nicht, sondern hungert fast zu Tode.» Diese Worte bilden nicht nur den Auftakt zu Paul Austers «Die Kunst des Hungerns» – sie sind auch eine perfekte Umschreibung von Heinz Helles Roman «Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin». Oder zumindest fast. Denn Helles namenlosen Protagonisten quält keine körperliche Gier, sein Hunger ist intellektueller Natur.
Schreiben und Lieben
Er reist nach New York, um zu schreiben, «um Probleme zu lösen», wie er es nennt. Er ist Philosoph und sein Problem ist das Bewusstsein. Einerseits ein wissenschaftliches Problem, welches er mittels einer Theorie zu lösen hofft, andererseits ist sein eigenes Bewusstsein das wirkliche Problem. Denn das Wuchern seiner Gedanken lässt ihn nicht schreiben; je mehr er sich seines Problems annimmt, umso mehr verliert er sich darin.
Er lässt sich treiben vom Rhythmus der Ereignisse in dieser Stadt. Partys und ausufernde Diskussionen im Intellektuellenmilieu reihen sich an sexuelle Eskapaden. Dazwischen Episoden des Erinnerns: Er liebt eine Frau, die er in Deutschland zurückgelassen hat. Jetzt erwartet er ihre Ankunft, glaubt jedoch, er werde irgendwann aufhören sie zu lieben. Darin besteht sein Kampf. Darin besteht sein Antrieb: Er will sich gänzlich der Möglichkeit berauben, sie nicht mehr lieben zu können.
In die Philosophie setzt er seine ganze Hoffnung: in eine Theorie, die erklären kann, was es heisst, etwas zu empfinden, was es bedeutet, ein Ich zu sein. Denn wer weiss, was Bewusstsein ist, seine Struktur und sein Funktionieren erklären kann, der kann es kontrollieren. Er könnte das Zustandekommen von Empfindungen steuern, wäre der alleinige Herrscher über seine Gefühle und würde lieben – nur weil er lieben will.
Eine Liebe, so radikal, dass kein Gefühl sie zerstören kann. Aus den Erinnerungsfragmenten wird dann auch klar, woher die Furcht vor dem Erlöschen der Liebe herrührt: aus dem Zweifel. Man legt alles zusammen: den Wohnort, den Besitz, den eigenen Körper im Geschlechtsakt, kurz: Zwei Existenzen verschmelzen zu einer. Doch bereits nach kurzer Zeit beginnt eine gegenseitige Entfremdung, die in der Abtreibung eines gemeinsamen Kindes gipfelt.
Im Labyrinth des Ich
«Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin» ist ein phänomenologisches Tagebuch, ein Reisebericht ins Innere, konsequent aus der Ich-Perspektive. Der Leser durchquert das Labyrinth eines Bewusstseins, das eine Theorie über das Bewusstsein aufstellen will, es als wissenschaftlichen Gegenstand, als etwas Objektives erforschen will.
Doch ist es Subjekt und Objekt zugleich: Das Ich lässt sich nicht erforschen und beobachtet wie eine Laborratte; Beobachter und Beobachtetes sind ein und dasselbe. Daran geht der Protagonist fast zugrunde. Ein Ich, das sich fragt, wer dieses Ich ist, das sich fragt. Im Spannungsfeld dieser Zerrissenheit seziert es sich unaufhörlich selbst. Ein Ich, das ohne Unterlass die Bedingungen seines eigenen Denkens reflektiert, den Prozess seiner Wahrnehmung und seines Empfindens beschreibt. Das Trinken einer Tasse Kaffee gerät zur neurophysiologischen Abhandlung. So auch das Begehren: «Es ist mir physikalisch nicht möglich, das Auftauchen eines weiblichen Körpers in meinem Gesichtsfeld zu ignorieren. […] Ich kann die Zusammenstellung des Bildes auf meiner Retina nicht verhindern. Ich kann seine Dechiffrierung in meinem Gehirn nicht stoppen. Ich kann die Kette von Assoziationen, von Erinnerungen und Phantasien von meinem zwölften Lebensjahr an bis genau jetzt, jetzt und jetzt nicht zum Stillstand bringen.»
Scheitern
Der Versuch, die eigenen Lebensprobleme mittels einer philosophischen Theorie zu lösen, muss zwangsläufig scheitern. «Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind», heisst es bei Wittgenstein – eine Sentenz, die für diesen Roman geradezu programmatisch ist. Er will es fassen, «dieses schwammige, unsichtbare, allmächtige Ich». Ein Getriebener, der den Strom des eigenen Bewusstseins bändigen will und sich dabei unablässig verliert, in den Tiefen und Untiefen seiner Gedanken. Ein Denken, dass sich ständig hinterher rennt.
Helles Protagonist sehnt sich nach der Unmittelbarkeit des Empfindens und Fühlens. Doch immer wieder drängt sich eine reflexive Distanz zwischen sein Ich und seine Empfindungen. Ein Text wie eine cartesianische Meditation («Ich bin es, der diese Empfindungen hat…»), welcher der finale Schritt zum erlösenden cogito misslingt. Nur selten gibt es diese Momente, in denen die Dinge «aufhören, ihre Namen zu schreien», einfach nur sind, was sie sind. «Die Wörter in meinem Kopf existieren nicht, sage ich mit Wörtern in meinem Kopf.» Er kann nicht ignorieren, am Leben zu sein, ein Bewusstsein zu haben.
Entfesselte Sprache
«Was wir schreiben, wird von dem beeinflusst, was wir lesen.» Heinz Helle ist Philosoph und das merkt man. Seine Sprache erinnert an die kryptische Nüchternheit eines Ludwig Wittgenstein und die Emotionslosigkeit Franz Kafkas. Doch etwas ist anders, da ist dieser unvergleichliche Klang. Eine Tonfolge, die mit dem ersten Satz beginnt und im Kopf bleibt, einen antreibt, Wort für Wort, Satz für Satz. Ein Bewusstseinsstrom, der den Leser hineinzieht. Ein entfesselter Sog, mal hochkomplizierter Wissenschaftsjargon, mal primitiv und vulgär.
Das Vokabular der akademischen Philosophie durchdringt ganze Textpassagen. Da diskutieren «Funktionalisten» mit «Repräsentationalisten» über das «Qualia-Problem» oder darüber, wie es ist, eine Fledermaus oder ein Gehirn in einem Tank zu sein. Das klingt absurd und verstehen können es nur Philosophen – nur nützt es ihnen nichts. Denn «Es sind die Dinge, die zählen, nur die Dinge.»
Info: Heinz Helle. Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin, Suhrkamp Verlag 2014, 160 Seiten, ISBN-10: 3518423983, 29.90 Franken.