Einblicke in das menschliche Bestiarium. Der Film “Wild Tales” erzählt Geschichten aus der gesellschaftlichen Wildnis.
Erwartungen sind da, um enttäuscht zu werden. Da sind diese Flugpassagiere, die allesamt herausfinden, dass ihr gemeinsamer Nenner eine Person ist, die unter ihren Demütigungen zu leiden hatte. Da ist die Kellnerin, die plötzlich den Kredithai und Peiniger ihrer Familie vor sich sitzen hat. Oder der Geschäftsmann, der im Verkehr bei einem Überholmanöver einen Arbeiter aufs Übelste beschimpft und dann eine Reifenpanne erleidet. Ein Sprengmeister wird Opfer behördlicher Willkür und Korruption. Dann ist da noch der verwöhnte Sohn eines Grossindustriellen, der nach einer Sauftour eine schwangere Frau überfährt, Fahrerflucht begeht und jetzt mit seinem Gewissen kämpft. Und schliesslich noch die Braut, die während ihrer Hochzeitsfeier herausfindet, dass ihr frisch angetrauter Ehemann sie mit einer der Gäste betrogen hat.
Das alles könnten Lehrstücke in Moral sein. Bierernste menschliche Fabeln, allesamt mit belehrendem Zeigefinger erzählt. Doch mitnichten! Dem argentinische Regisseur Damián Szifron bereitet es in seinem Film Wild Tales – Jeder dreht mal durch! einen Höllenspass, den Zuschauer um jegliche moralphilosophische Pointe zu betrügen. Finale Gerechtigkeit sucht man genauso vergebens wie ein versöhnliches Happyend. Die Protagonisten stechen zu, vergiften, zünden an, schlagen zu, sprengen in die Luft, so dass gleich reihenweise gestorben wird. Die Motive sind dabei stets die gleichen: Die sogenannten Schwachen der Gesellschaft lassen sich irgendwann nichts mehr gefallen und streben nach rücksichtsloser Vergeltung, bar jeder Moral oder gesellschaftlicher Regel.
Ganz verabschiedet sich Szifron aber nicht vom Fabel-Motiv. Dass er seinen sechs Episoden umfassenden Film Wild Tales, also wilde Geschichten nennt, ist bezeichnend. Es sind Geschichten aus der menschlichen Wildnis, wo es um das Fressen und das Gefressenwerden geht. Im Vorspann wird ein Bestiarium von Jägern und Gejagten präsentiert, nur um die sozialdarwinistische Logik sogleich umzukehren. Plötzlich setzt die Beute sich zur Wehr. Es sind meist alltägliche Situationen, die ohne Vorwarnung eskalieren und stets eine fatale Kettenreaktion in Gang setzen. Sukzessive folgt ein Unglück auf das nächste, ein simples Überholmanöver auf der Landstrasse setzt sich in einem Duell auf Leben und Tod fort und endet in einem flammenden Inferno.
Wild Tales handelt von den Grenzbereichen des Moralischen, er durchleuchtet die sozialen Zwischenräume, die Areale, wo die Gesellschaft nicht mehr Recht sprechen kann. Die Ungerechtigkeiten, Demütigungen und Kränkungen, die auf dem juristisch-gesellschaftlichen Radar nicht mehr aufscheinen, aber dennoch nach Sühne verlangen. In diesem Bereich, innerhalb der Gesellschaft, aber jenseits dessen, was gesetzlich geahndet wird, erscheint blinde Selbstjustiz als einziger Ausweg. Erniedrigung wird mit blanker Gewalt erwidert, die korrupte Bürokratie der Stadtverwaltung mit Sprengstoff bekämpft. Es sind eruptive Momente der Befreiung, anarchische Impulse, die das Regelkorsett sozialen Zusammenlebens kurzzeitig sprengen. Wenn die Protagonisten ihre Rachegelüste ausleben scheinen sie zurückversetzt in einen Naturzustand ohne Gesetz, ohne Staat und ohne eine historisch geartete Form von Moral. So handeln Tiere, nicht Menschen. Wer aber nun erwartet, dass hier lediglich der Triumph der Unterdrückten in der Revolte gefeiert wird, den belehrt der Regisseur eines Besseren. Die erhoffte Katharsis bleibt aus, denn am Ende steht keine der Figuren als Sieger da. Zu unerbittlich wirken der blinde Zufall und die Logik des Unrechts in ihrem perfiden Wechselspiel.
Dass diese Handlungen mitunter recht drastisch in Szene gesetzt sind, mag empfindlichere Naturen beim Betrachten des Films möglicherweise abschrecken. Damián Szifron beweist allerdings genug Gespür, um im entscheidenden Moment, wo das Gezeigte zur Gewaltorgie zu verkommen droht, durch den gezielten Einsatz von schwarzem Humor, die Szenerie aufzubrechen.
In Argentinien war Wild Tales der meistgesehene Film des Jahres. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass das Werk einen unerbittlichen Blick auf ein krisengeschütteltes Land wirft. Erbarmungslos legt der Film seinen Finger in die offenen Wunden der Gesellschaft: Eine willkürliche Bürokratie, eine korrupte Justiz, schwerreiche Industriebarone, die über dem Gesetz stehen, der Gegensatz von Stadt und Land, arm und reich. Nichtsdestoweniger kommt diese Sozialkritik nicht moralisierend und anprangernd daher, dazu trieft der Film zu sehr vor bösartiger Komik. Das Lachen bleibt einem nicht im Hals stecken.
(Unveröffentlicht, Übungstext für Kulturjournalismus-Kurs am MAZ)